Jede Reise bringt neue Erfahrungen mit sich. Doch diese Reise ist anders. Das spüre ich immer stärker, je mehr Zeit ich mit Bashir und seinen Freunden verbringe. Es ist eine Reise, die mich der Wirklichkeit näher bringt und meine Augen öffnet. Teil III einer Reportage.
Du hast Teil 1 und Teil 2 verpasst? Dann kannst Du sie hier nachlesen.
Meine Frau ist im Urlaub
Wir schauen uns in die Augen. Es geht um Frauen. Früher hat Bashir Ausschau nach einer Freundin gehalten. Heute nicht mehr. Eine Beziehung? “No. Not in this situation.” Die anderen hören zu, einer spült. Es fährt mir in den Bauch, weil ich weiß, wie sehr er von einer Frau geträumt hat. Jetzt gilt also: Arrangement vor Traum. Es ist etwas verloren gegangen in Bashir. Ibrahim erzählt von seiner eigenen Frau, dass sie weit weg sei; ihre Beziehung damit im Urlaub. Ein langer Urlaub. Einmal flammt das Thema “Frauen” nochmal auf, als wir über Deutschland sprechen. Über Bashirs Absicht, erfolgreich dorthin zurückzukehren. Option Eins: Eine Frau kennenlernen. Option Zwei: In Ausbildung kommen. Es gibt nicht viele Optionen. Es ist wie ein Strategiespiel. Ohne das Spiel und ohne viele Strategien.
Das Sinnbild: Monte Christo
Sprachlich schwer verständlich ist für mich zunächst auch der Film „Monte Christo“, den Ousman mir auf seinem Handy zeigt. Gelegentlich lädt er sich im offenen WLAN-Netz einer Eisdiele Filme herunter. Im Gegenzug kauft er sich dann mal ein Eis. Markeneis. Wir liegen auf der Matratze und halten den kleinen Screen abwechselnd vor unsere Augen. Die Hauptfigur, Dantès mit Namen und ein Segler, wird auf seiner Odysee wegen Verrates über Jahre unschuldig in ein elendiges Loch geworfen. Er befreit sich schließlich durch einen genialen Coup, indem er sich an der Stelle eines verstorbenen Mithäftlings in dessen Leichensack ins Meer werfen lässt. Er gelangt in Freiheit, findet auf Monte Christo einen Schatz, schafft Gerechtigkeit gegenüber seinen Feinden und erlangt seine geliebte Frau zurück. Eine Geschichte – die mir bekannt vorkommt. Menschen, die im Meer landen. Menschen, die tricksen, um sich über Wasser zu halten. Menschen, auf der Suche nach einem sicheren Hafen.
Es ist der 1. August 2018. Noch immer darf die „Lifeline“ nicht auslaufen, um Menschen zu retten. Zu helfen. Ousman ist jung. Seine Träume auch. „Los” Ab in die Stadt. Er nennt mich fortan nur noch „Monte Christo“. Warum? Das weiß ich nicht.
Als Kleinkind unterwegs
Es ist spät. Aber Ousman fährt mit seinem „Mercedes” voraus und Monte Christo mit dem „Ferrari” hinterher. Ousman fragt immer wieder, ob ich noch mehr sehen möchte. Ich sage „Ja”, also geht es weiter. Nach wenigen Stunden kenne ich die ganze Stadt. Es ist dunkel, die Straßenlaternen spenden einsame Lichtkegel. Menschenleer sind die Straßen. Wir fahren Richtung slowenische Grenze und finden gespenstische Stimmung. Folgen dem Grenzverlauf und gelangen in den Tunnel. Auf dem Weg hinein in die frische Kühle meint Ousman „You are important for me“. Als wäre ich ein kostbares Gut für ihn, auf das er aufpassen müsste.
Ich verstehe das nicht und erwidere unsicher, „You are important for me, too.“ Warum bin ich wichtig für ihn? Weil ich sein Gast bin? Vielleicht geht es ihm mit mir wie mir mit Kleinkindern, wenn ich mit ihnen allein bin und ich mich für sie verantwortlich fühle. Dann sind die Kinder auch ganz besonders wichtig für mich. Vielleicht hat es Ousman so gemeint. Denn: Obwohl ich als Deutscher, der in Deutschland lebt, näher an Italien dran bin, als Ousman, ein Afrikaner, der in Italien lebt, bin ich hier in seiner neuen Welt wie ein Fremder. Ein Kind in seiner Welt. Der Tunnel ist sehr lang. Ich genieße die erfrischende Fahrt.
Nicht weniger erfrischend ist am nächsten Tag das Freibad. Ousman und ich kratzen unser Kleingeld zusammen und Gott sei Dank entscheide ich mich dann doch noch dazu, auch den 10€ Schein einzustecken. Wir schwingen uns aufs Rad und fädeln uns in den Straßenverkehr ein, wie Kettenmacher Perlen auf dünnen Faden. Ursprünglich wurde uns eine Stelle am Fluss empfohlen, aber Ousman schaut ernst und hebt die Hand weit über den Boden „Fast water. Dangerous.“ Er meint wohl auch die Wassertiefe. „Do you swim?“ Ich nicke. „Oh, good.“
Wir verraten den anderen nicht, wo wir schwimmen gehen, vielleicht. wegen des Geldes. Der Eintritt ist für die Zweitperson dann doch nicht kostenlos, wie Ousman offenbar dachte; also lege ich den 10ner auf den Tresen. Ousman wehrt verbal vehement ab, lässt es aber tatsächlich genauso vehement zu.
Drinnen erfahren wir, dass man eine Badekappe braucht. Auch das noch: Extrakosten. Anderenfalls gilt Badeverbot. Wir zählen die Münzen ab; es reicht nicht. Ousman kann gut mit Menschen und kennt den Bademeister. Dieser bringt plötzlich zwei Kappis um die Ecke. Wir strahlen. Ab ins Wasser. Ich an der tiefen Stelle, Ousman an der flachen. Er kann nicht schwimmen, hält sich über Wasser, hektisch und ungelenk. „You teach me.“ Nachdem ich ein paar Bahnen gezogen habe, bringe ich ihm also Schwimmen bei; bis er am Ende des Tages fast eine Bahn, fünfzig Meter, mit nur wenigen Pausen schafft. Irgendwann springen drei Kindsköppe, wie mein Großvater kommentiert hätte, ins Becken. Ousman kennt sie. Natürlich. Aus der Schule vielleicht. Sie albern, blödeln, klopfen Sprüche, tauchen sich gegenseitig unter. Typisch Pubertät. Die Späße, Worte, die sie mit Ousman teilen, kann ich nur bedingt verstehen und erahnen. Sie nehmen seine Kappi weg und rufen zum Abschied immer wieder „Ciao gey!“. Ousman lächelt fahl und wehrt mit einer leichten Handbewegung ab: „It’s only joke.“. Natürlich.
Der Siegesleuchtturm
„Do you have a dream?“ Ousman schaut mich fragend an. Ich meine: „For your future?“ Ousmans Augen schweigen. „Do you want to work? Do you want to study?“ „Ahh.“ Er lächelt. Und erzählt mir dann genau, wie er sich alles vorstellt. Eine afrikanische Frau, wenn er wieder zurückgegangen ist. Ein Auto. Eine Wohnung. Familie. Das ist alles. Alles genau nach Plan, auf Jahre abgezählt. Auf unserem Weg durch die Stadt fahren wir von Menschentraube zu Menschentraube. Es herrscht ausgelassene Stimmung. Alles junge Menschen. Junge Frauen, junge Männer. „Ciao Ous.“ „Ciao Ous.“ Begrüßen sie fröhlich.
Als Ousman die Stangen-Tänzerinnen auf dem zentralen Platz des „Faro della Vittoria“ sieht – in ihrem slipgleichen Kostüm souverän als halbnackt zu bezeichnen – kräuselt sich seine Stirn „Not good.“ „We can go for a walk“, schlage ich vor und stehe auf. Auch ich muss mich nicht übermäßig reizen lassen und denke das, obwohl ich in der hießigen Wertegemeinschaft aufgewachsen bin. Manchmal stehen die Werte ganz schön nackt da. Gnade, wer hier Kleidung schenkt.
Die Polizei ist mit mehreren Autos vorgefahren. Ein Mann sitzt mit Handschellen an der Wand. Dubiose Päckchen stehen auf einem Tisch davor. „Drogen“, sagen meine Begleiter. Es ist die Attraktion des Abends. Wir sitzen auf einer Parkbank und schauen zu. Es gefällt mir nicht. Einige Beamten sind im Einsatz und ich verstehe nicht, warum? So viel bezahlte Manpower für ein paar Drogen? Aber dafür weiß ich einfach zu wenig. Ich möchte nach Hause, die anderen bleiben noch sitzen.
Vorhänge aus Licht und Draht
Bashir übersetzt, was er zu Ousman sagt: „He has to work. Support his father.“ Es ist der letzte Abend. Ich packe meine Sachen zusammen, muss am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang raus, der Bus fährt früh ab. Alle wollen mich zum Bahnhof begleiten, am nächsten Morgen verschlafen sie, mein Herz lächelt verständnisvoll darüber. Meine Freunde. Wir hatten uns herzlich verabschiedet, oder auch sachlich. Mit Bashir stand ich am Fenster mit Vorhängen aus Licht. Zierlicher Draht ist in kopfgroßen Maschen vor das Fenster gespannt. Wir schauen in die Ferne, in den Himmel. Bashir neigt seinen Kopf „Es erinnert mich an die Türkei. Gemeinsam haben wir am Fenster des Gefängnisses gestanden und hinaus gesehen. In den Himmel.“ „Warst du lange dort?“ „Nein, nur wenige Tage.“
Obwohl ich meine Freunde schon bald wieder vermissen werde, fällt mir der Abschied nicht schwer. Erleichterung. Nicht wegen meiner Freunde, sondern wegen ihrem Leben. Ich besteige den Schnellzug. Nach ein paar Stunden passiere ich Venedig. Ich könnte aussteigen, überlege kurz, bleibe aber sitzen. Wann anders. Außerdem sieht der Bahnhof nicht anders aus, als in den anderen Großstädten. Touristen. Geschäftsleute. Schwarze. Weiße. Chinesen. Cafés to Go. Smartphones. Magazine, Zeitungen, verschweiste Koffer. Kinderwägen. Kindergruppen. Glitzernde Sonnenbrillen. Und…
Gastfreundschaft sieht anders aus
In Mailand wird es knapp beim Umsteigen. Ich rase durch den Untergrund. Der Bahnhof ist … – rießig, eine massive Untertreibung. Monumental. Und genauso chaotisch. Ich versuche nach meinem spärlichen Frühstück etwas Obst zu finden. Die Verkäuferin sieht mich mit einer gelangweilten Freundichkeit an, spricht italienisch, ich englisch: „One Banana. Two Apples. Please.“ Eigentlich werden hier vornehmlich Fruchtsäfte gepresst; Einzelobst nur zu Unikatspreisen verkauft. Ich zahle 5€ für etwas Fruchtzucker und Frische. 5€ für zwei Äpfel und eine Banane. Ich fasse es nicht. 5€, der Stundenlohn von Bashir. Bashir, der weniger verdient, als seine italienischen Kollegen, trotz doppeltem Einsatz und vorbildlicher Leistung. 5€, für schäbige Äpfel und eine alte Banane. Gastfreundschaft sah bei meinen afrikanischen Freunden anders aus.
Ich will nur noch heim. Über Singen, Schwarzwald und Stuttgart-Kessel. Ich öffne die Türe. Isaaks Zettel hängt immer noch dort. Isaak ist verschwunden. Seit Wochen. Mein Freund aus Afrika. Er hat es nicht mehr ausgehalten. Dabei hatte er noch gute Chancen. Zum Schluss fehlte einfach die Kraft. Der Ablehnungsbescheid vom BAMF hatte ihm alle Hoffnung genommen. Davor zuversichtlich und stark, wurder er danach immer schwächer und … Als ich sagte, ich ziehe zum Studium aus, meinte er „If you go, I go.“ Ich nahm es nicht ernst. Jetzt ist er weg. Mein Freund. Mein illegaler Freund. Illegal, nicht weil er sich irgendwo illegal aufhalten würde. Er ist ja gemäß dem Recht gegangen, alles legal. Nein. Illegal, weil das Leben, zu dem er gezwungen ist dem Gesetz der Menschlichkeit widerspricht.
Briefe in beige
Auch andere Freunde aus meinem Umfeld erhalten Post. Ich freue mich immer über Post. Sie hingegen sagen, die Farbe Beige ist „No Hope.“ Die Farbe, in der die BAMF Bescheide zugestellt werden. Irgendwann, nach Monaten, kommt dann auch die Post von der Ausländerbehörde, in der man freundlich dazu aufgefordert wird, Deutschland zu verlassen. Lamin sitzt geknickt am Küchentisch. Was soll ich sagen? Ich kann nichts sagen. Abends sitzen wir gemeinsam im Garten. Bald ist auch er weg. Aber wo? Irgendwo in Europa. Italien vielleicht. Spanien. Auf der Straße als Spielzeugverkäufer. Ich schau auf meinen Personalausweis. Die Nummer. Diese Nummer im System macht den Unterschied. Tinte auf Papier.
Das Gesetz hat gewonnen, aber was haben wir dabei verloren. Wenn wir uns ein Happy End dieser Geschichte wünschen, müssen wir unsere Füller auspacken, tief ins Tintenfass tauchen und egal wo wir sind und arbeiten; eine neue Geschichte schreiben.
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