Wie alle anderen unterhalten sie sich, aber sie sprechen dabei kein Wort. Um sie herum ist wildes Stimmengewirr zu hören, aber sie bleiben stumm. Ihre Hände reden für sie über die Uni, das Wetter und den bevorstehenden Poetry Slam. Diesmal wollen sie unbedingt mitentscheiden und ihre Lieblingsslammer ins Finale bringen. Eine Reportage von Sarah Heider.
Sie betreten einen großen Raum, der in orangenes Licht getaucht ist. Genau gegenüber der Tür ist eine lange Bar, hinter der drei Angestellte eifrig Getränke ausschenken. Die Gespräche des Publikums mischen sich mit lauten Beats, die der DJ auf der rechten Bühnenseite auflegt. Zum 58. Mal findet an diesem Abend im alten Flakturm IV in St. Pauli der Bunker Slam statt. Die Wände des Bunkers sind auf der Außenseite mehr als drei Meter dick und schützten im Zweiten Weltkrieg bis zu 25.000 Menschen vor Fliegerangriffen. Nach dem Krieg sollte der Bunker eigentlich gesprengt werden. Er blieb jedoch erhalten, weil es in der stark zerstörten Stadt nur noch wenige bewohnbare Häuser gab und einige Zivilisten im Bunker Unterschlupf suchten. Später wurde der Bunker zu einem Medienzentrum umgebaut und beherbergt heute Musikläden, Agenturen und eben auch den Musikclub Uebel & Gefährlich.
Die sechs Studentinnen sehen sich nach einem Platz um. Anna Seidel entdeckt neben der ersten Reihe noch etwas freien Raum. Zielstrebig steuert sie darauf zu und breitet eine Picknickdecke aus, auf der sie sich mit ihren Freundinnen Leonie Ewald und Ina Schubert niederlässt. Der Rest der Gruppe will lieber nicht zu sehr im Rampenlicht stehen und sucht sich weiter hinten einen Platz. Doch Anna, Leonie und Ina haben sich auf dem Weg fest vorgenommen, heute zur Jury zu gehören.
Fünf Punktetafeln wird Moderator David Friedrich an das Publikum verteilen, mit denen die Juroren den Auftritt der Slammer bewerten. Auf den Tafeln lässt sich eine Punktzahl von 0,0 bis 10,0 zeigen. Je mehr Punkte ein Poet bekommt, desto besser fanden die Juroren seinen Auftritt. Allerdings werden nicht alle Wertungen der Juroren miteinbezogen. Die höchste und die niedrigste Wertung werden gestrichen und der endgültige Punktestand aus dem Durchschnitt der verbleibenden Punkte ermittelt. Die 19-jährige Anna kennt das Punktesystem, denn sie ist bereits das vierte Mal beim Bunker Slam.
Um 20.36 Uhr wird es dunkel im Raum. Die Nebelmaschine auf der Bühne springt an. Sirenen heulen laut auf und sechs Scheinwerfer lassen ihr weißes Licht abwechselnd über das Publikum kreisen. Aus den Lautsprechern dringt das Summen eines Männerchores zu der Melodie des englischen Antikriegslieds „Johnny I Hardly Knew Ye“ und wird stetig lauter. Unter tosendem Applaus der 440 Zuschauer tritt David auf die Bühne.
„Wer möchte denn heute unser knallharte Jury sein?“, fragt er das Publikum. Sofort schießen einige Hände in die Höhe. Natürlich auch die von Anna, Leonie und Ina. Er nimmt einen jungen Mann im gelben Pulli dran. Sein Name ist Chayan. Er war jedoch beim letzten Bunker Slam schon in der Jury. „Ja, ich erinnere mich“, sagt David so übertrieben langsam, dass allen im Raum klar ist, dass er keine Ahnung hat. „Du warst nicht so dolle, oder? Ne, ich glaube, da nehmen wir lieber jemand anderen.“
Er schaut sich im Saal um und entdeckt Anna, Leonie und Ina. „Was ist denn mit euch? Was macht ihr so, wenn ihr nicht hier seid?“ Im großen Saal ist Annas Antwort kaum zu hören, weshalb David sie noch einmal für alle wiederholt. „Ihr studiert Gebärdensprache-Dolmetschen? Ach was.“ Er macht willkürlich einige Zeichen mit der Hand. „Was heißt das?“, will er von den drei Studentinnen wissen, die lachend mit den Achseln zucken „Okay, gar nichts, ich merke das schon. Warum wollt ihr denn in die Jury?“ Die Drei blicken sich an. Sag du etwas, fordern Inas Hände Anna auf. David versucht ihre Bewegungen auf der Bühne nachzuahmen. Kopfschüttelnd wendet er sich von den Dreien ab. Anna bewundert die Schlagfertigkeit des Moderators. Ihr selbst fehlen in einem solchen Moment oft die Worte.
Wenige Minuten später sind vier der fünf Punktetafeln vergeben. „So, was machen wir denn mit der letzten?“, fragt David das Publikum. Sein Blick fällt wieder auf Anna, Ina und Leonie. „Ach was soll‘s, dabei müsst ihr ja nicht reden.“ Mit diesen Worten reicht er ihnen die Tafel. Die Interaktion mit dem Publikum ist ein wichtiger Teil von Davids Moderation. „Du gehst auf die Bühne und die Meute ist noch kalt“, erklärt er. Seine Aufgabe sieht er darin, die Leute schon vor dem ersten Vortrag in eine lockere Stimmung zu bringen.
Als erste der insgesamt acht Poeten betritt Luisa Münch die Bühne. „Hummel Hummel“, brüllt der Moderator ins Mikro. Das Publikum antwortet mit einem lauten „Mors Mors“. Das ist Tradition, wenn ein Slammer zum ersten Mal im Bunker auftritt. Eigentlich hätte Luisa heute gar nicht im Bunker Slam auftreten sollen, da eine andere Künstlerin jedoch krankheitsbedingt nicht auftreten konnte, sprang sie kurzfristig ein.
David tritt zwei Schritte zurück und nimmt auf einem Sofa im Hintergrund Platz. In ihrem Text skizziert Luisa sechs Momentaufnahmen der „schönen abgefuckten Welt“ mit allen ihren Facetten: Glück, Freude, Trauer, Schmerz, Reue und Vergebung. Mitten im Vortrag stockt sie und schließt die Augen. „Mist!“, entfährt es ihr leise. Ein kleiner Teil des Publikums fängt an zu klatschen. „Macht nichts, du schaffst das!“, übertönt eine Frauenstimme die lauter werdende Geräuschkulisse. Der Zuspruch des Publikums entlockt Luisa ein Lächeln. „Ich hab‘s wieder“, sagt sie erleichtert und setzt ihren Vortrag ohne eine weitere Pause fort.
Anna, Ina und Leonie klatschen für den Vortrag, der ihnen ganz gut gefallen hat. Während David vom Sofa aufsteht und das Mikro wieder an sich nimmt, beraten die Drei über die Punktzahl. Trotz des Patzers vergeben sie eine 8,3, die zweitbeste Bewertung für Luisa an diesem Abend. Mit einer Punktzahl von 7,94 verlässt sie unter dem Applaus des Publikums die Bühne.
Der zweite Poet trägt einen Text über die Phasen nach einer Trennung vor. Danach betritt Florian Wintels die Bühne. 15 Texte hat er auswendig im Kopf. Welchen Text er vorträgt, hängt von dem Ort ab, an dem er auftritt. „Im Theater wähle ich eher epische Texte, in einer abgerockten Kneipe eher laute“, erklärt Florian. Heute hat er sich für „Was kostet Geld“ entschieden – und es war die richtige Entscheidung. „Werde einfach glücklich, denn das ist unbezahlbar.“ Kaum hat er die letzten Worte ausgesprochen, bricht tosender Beifall aus. 9,4 Punkte gibt ihm die Jury: Die beste Bewertung des ganzen Abends, mit der er als erster Finalist feststeht.
Nach der vierten Poetin gibt es eine viertelstündige Pause. Ina und Leonie bahnen sich ihren Weg zu der Bar, während Anna auf der Decke sitzen bleibt. Eigentlich fand sie den Auftritt des zweiten Poeten noch etwas überzeugender als den von Florian. Naja, vielleicht klappt es ja in der zweiten Halbzeit mit dem Wunsch, ihren Liebling ins Finale zu bringen.
Plötzlich bemerkt sie, dass Ina ihr zuwinkt. Du wolltest auch ein Bier, oder? Anna nickt. In diesem Moment wird ihr wieder bewusst, wie praktisch es ist, in einem lauten, überfüllten Saal Gebärdensprache sprechen zu können.
Das Licht im Saal geht aus und alle kehren rasch auf ihren Platz zurück. Nach Matti Seydel, dem ersten Poet der zweiten Hälfte, tritt ein junger Mann im grauen T-Shirt und mit einer roten Cap ins Scheinwerferlicht. „Deutschland, dies ist dein Konzert, ein Kammerspiel in Dur, die Hoffnung ist der Dirigent und Mut die Partitur“, beginnt Quichottes Text „Orchester“. Was zuerst wie die reine Beschreibung eines Orchesters wirkt, entpuppt sich nach und nach als politischer Text. Geschickt bindet Quichotte immer wieder die Herkunft der Instrumente mit ein und zeigt, wie multikulturell ein Orchester aufgebaut ist. „Donnernd schenkt die Pauke noch dem Treiben Vehemenz, mancher sieht ihr Schicksal nicht und andere verkenn‘s. Denn sie ist zwar die Deutsche hier, stolz und steht am Rand, doch auch sie ist Flüchtlingskind aus dem Sudetenland“, verdeutlicht er, dass auch die vermeintlich deutschen Instrumente ausländische Wurzeln haben. Anhand des Orchesters hebt er hervor, wie wichtig das Zusammenleben vieler unterschiedlicher Kulturen in Deutschland ist. „In diesem Stück sind sie vereint als Bruder oder Schwester, denn allein sind sie Solisten, doch zusammen ein Orchester.“ Das Publikum ist begeistert. Anna, Ina und Leonie müssen nicht lange über ihre Wertung diskutieren und geben ihm eine 8,9. Damit waren sie sogar noch etwas zurückhaltend. Im Durchschnitt bekommt Quichotte eine 9,0.
Als vorletzter Poet betritt Wolfgang Hogekamp die Bühne. Den Applaus, mit dem er empfangen wird, hat er mehr als verdient, denn ohne ihn, den Urvater der deutschen Poetry-Slam-Szene, würde dieser Abend nicht stattfinden.
Ein paar Amerikaner hatten ihm von einer neumodischen Veranstaltungsform erzählt, bei der Dichter ihre selbstgeschriebenen Texte vortragen und das Publikum per Applaus den Sieger auswählt. Davon inspiriert gründete er 1994 in Berlin mit einigen Freunden eine offene Bühne für freie Dichtkunst: die erste Poetry-Slam-Veranstaltung in Deutschland. „Die anderen sind längst über alle Berge, mit denen ich das gegründet habe, und ich bin halt nicht so gut im Berge klettern“, erzählt Wolfgang. Seine Poetry-Slam-Reihe gibt es noch immer und gilt als die älteste Serie in Deutschland.
Der Text von Wolfgang ist gut, doch wird von der Jury etwas schwächer als der von Quichotte bewertet. Nach dem letzten Poeten steht fest, dass Quichotte im Finale gegen Florian antreten wird. Anna legt ihre Tafel zur Seite. Im Finale bewerten nicht mehr die Juroren, sondern der Jubel des ganzen Publikums entscheidet.
Als erster Finalist kommt Florian zum zweiten Mal auf die Bühne. Er trägt einen Text vor, den er selbst als „Gute-Nacht-Geschichte“ ankündigt. Sie ähnelt allerdings eher einer Horrorgeschichte: Bäume und Pflanzen erheben sich gegen die Menschheit. „Kirschen, Buchen, Fichten, Feigen, wütende Cypressen – alle riefen sie im Chor: Jetzt gibt’s übelst auf die Fressen“, donnert Florian. Städte und Dörfer werden von den wildgewordenen Pflanzen überrollt, bis kein Mensch mehr existiert. Die politische Pointe kommt erst am Schluss: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann blühen sie noch heute. Und jetzt schlaf, mein liebes Kind. Hab keine Angst vor Hirngespinsten knorriger und widerlicher Wesen, denn das war nur ein Gedicht. Den Klimawandel gibt es nicht. Der Klimawandel wurde von Chinesen erfunden.“
Florian nimmt auf dem roten Sofa Platz und greift erst einmal nach dem Glas Wasser, das dort für ihn bereitsteht. Währenddessen kündigt David Quichotte als zweiten Finalisten an, der vom Publikum mit lautem Beifall begrüßt wird. Quichotte war mal drei Jahre lang Lehrer, wie David dem Publikum verrät. „Die Tatsache, dass ich heute Abend hier stehe und nicht im Klassenzimmer sagt alles“, kontert Quichotte. Sein Spruch wird genau wie sein Text mit dem Titel „Props“, der von seiner Zeit als Lehrer handelt, mit Lachen und Applaus belohnt.
David bittet Chayan, dem er zu Beginn des Abends noch den Platz in der Jury verwehrt hatte, auf die Bühne. Er soll ihm bei der Entscheidung helfen, den Sieger zu bestimmen. Noch einmal klatscht das Publikum für jeden Finalisten, wobei David und Chayan auf die Lautstärke und Länge des Applauses achten. Es ist ziemlich offensichtlich, wen das Publikum an diesem Abend zum Sieger kürt. David nimmt sein Mikro in die Hand. „Zum Abschluss nochmal einen 10-Punkte-Applaus für unseren Zweitplatzierten: Quichotte.“
Anna und Leonie klatschen so laut sie können. Inas Pfeifen übertönt den Applaus für einige Sekunden. „Und nun rastet richtig aus! Für unseren heutigen Gewinner! Florian Wintels!“ Die Zuschauer trommeln mit den Beinen auf den Boden, klatschen, pfeifen, jubeln in ohrenbetäubender Lautstärke. Florian verbeugt sich einige Male und nimmt dann seine Preise entgegen: Eine zwei Kilogramm schwere Hantel und eine Flasche Tullamore Dew Whiskey, die beiden traditionellen Preise des Bunker Slams. Doch David hat noch eine Überraschung parat: Im Januar 2018 darf Florian in der Elbphilharmonie auftreten.
Nachdem das Licht im Saal wieder angegangen ist, packen Anna, Ina und Leonie ihre Decke wieder ein. Ihre Lieblingsslammer konnte Anna zwar nicht ins Finale bringen, den Abend hat sie trotzdem in vollen Zügen genossen.
Schreibe einen Kommentar