Entscheidet das Wohlbefinden oder die Leistungsfähigkeit des Einzelnen über unsere Gesundheit? Oder spielen noch andere Faktoren, wie unser Umfeld, gesellschaftliche und persönliche Erwartungen, eine entscheidende Rolle? Unsere Autorin Johanna geht diesem Phänomen auf den Grund.
„Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens.” – So definiert es die Weltgesundheitsorganisation WHO. Kann es dann sein, dass wir in unserer Gesellschaft Menschen „krank“ nennen, die im eigentlichen Sinne des Wortes gesund sind und Menschen als „gesund“ einschätzen, obwohl sie in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt sind?
Wie ich zu den oben genannten Gedanken komme: Ich bin Medizinstudentin im Praktischen Jahr und arbeite seit circa sechs Monaten im Krankenhaus. Immer wieder begegnen mir Menschen, die wir „Patienten“ nennen und von einer Krankheit heilen möchten oder sollen. Manche sagen gleichzeitig von sich selbst, dass sie sich körperlich, geistig und sozial vollständig wohlfühlen. Durch diese Erfahrung wuchs in mir die Frage, woran wir eigentlich „Krankheit“ festmachen.
Ist es ein Laborwert, der nicht „normal“ ist? Ein positiver Test auf einen Erreger? Oder einfach die Tatsache, dass ein Körper vielleicht nicht die „normale“ Belastbarkeit schafft? Definieren wir „Gesundheit“ also im Grunde nicht mehr als Wohlbefinden, sondern als das Erreichen der von uns vorgeschriebenen „normalen“ Leistungsfähigkeit? Oder noch kritischer gefragt: Erschaffen wir uns vielleicht selbst kranke Menschen durch unsere Leistungsansprüche?
Krankheit definiert in Bezug auf die Leistungsfähigkeit
Seit ich im Krankenhaus arbeite, begegnen mir jeden Tag Kinder und Erwachsene mit langen Diagnose-Listen. Gleichzeitig sind nicht alle diese Menschen – nach WHO Definition – schwer krank. Sie sind zwar beispielsweise aufgrund ihrer Herzleistung in der Belastbarkeit extrem eingeschränkt ja, gleichzeitig fühlen sie sich körperlich, geistig und sozial völlig wohl. Voraussetzung dafür ist, dass sie in einem Umfeld leben, dass sich ihrer individuell-normalen Leistungsfähigkeit anpasst und darauf eingeht. Manche Kinder sind beispielsweise im Sport nicht so belastbar wie andere und brauchen dann auch nur die Leistung erreichen, die sie sich selbst zutrauen.
Häufig sind die Patient*innen dafür umso ausdauernder beim Lachen, Malen oder Singen. Es gibt tatsächlich viele hochkomplexe, beeindruckende Wege, „eingeschränkte“ Herz- ,Gehirn- oder allgemeine körperliche Leistungen zu erhöhen, mit dem Ziel Menschen „gesünder“ zu machen. Nur machen wir sie damit im eigentlichen Sinne nicht gesünder, sondern leistungsfähiger. Wir versuchen, sie an unsere Ansprüche, Erwartungen und Normwerte anzupassen. Es ist mir wichtig, zu betonen, dass ich mit diesem Artikel nicht per se unsere Therapien kritisiere. Ich bin mir bewusst, dass viele davon lebensrettend und ein Segen sind und ich bin dankbar dafür. Ich möchte dich gleichzeitig dafür sensibilisieren, wie sich unser Leistungsdenken auch im GESUNDHEITswesen manifestiert.
Krankheit definiert in Bezug auf das Wohlbefinden
Nun noch die andere Perspektive. Es gibt viele Menschen in unserer Gesellschaft, die „voll“ leistungsfähig sind. Sie können körperlich und geistig 150 Prozent im Job und der Familie geben, weil sie ja „gesund“ sind. Gleichzeitig fühlen sich viele von ihnen subjektiv nicht wohl. Sie fühlen sich vielleicht ausgelaugt, nicht wahrgenommen oder wertgeschätzt, sind orientierungslos, gestresst, Suchende oder Getriebene.
Und dass obwohl sie doch „gesund“ sind und „dankbar dafür sein sollten“. Sie sind laut WHO-Definition eigentlich nicht gesund. Gleichzeitig sind sie für unsere Gesellschaft voll leistungsfähig und gewinnbringend und werden deswegen nicht als krank beziehungsweise beeinträchtigt angesehen.
Andere Rahmenbedingungen und persönliches Umdenken als Therapie
Erschaffen wir uns also vielleicht teilweise selbst kranke Kinder und Erwachsene durch unsere Leistungsansprüche? Manche Menschen können aufgrund ihrer individuellen Konfiguration des Herzens, Gehirns oder anderer Körperteile die durchschnittliche Leistungsfähigkeit nicht erreichen. Gleichzeitig können sie sich vollständig wohlfühlen, wenn ihr Umfeld sie so annimmt und die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft. Sie sind dann weder krank noch beeinträchtigt, sondern können ihre individuellen Potentiale und Leistungsfähigkeit entfalten.
Menschen, die durchschnittlich leistungsfähig sind, in ihrem Umfeld jedoch die Erfahrung machen, trotzdem nicht genug zu sein, sind in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt. Manchmal sind es auch die eigenen inneren Kritiker und Antreiber, die uns dieses Gefühl vermitteln. Sie können uns zu gestressten Suchenden und Getriebenen und damit zu gesundheitlich beeinträchtigten Menschen machen. Also können uns vielleicht passende Rahmenbedingungen und ein persönliches Umdenken schon ein ganzes Stück helfen, wieder gesund zu werden.
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