Was erwartest du? Von deinem Partner, von deinem Job, von deinem Leben? Oft unterschätzen wir die Macht der Erwartungen, die wir selber haben, aber auch die, die andere an uns haben. Ein Kommentar.
Vielleicht kennst du es noch von früher: Die Mathearbeit, für die du lange gelernt, dich durch die komplizierten Gleichungen gequält hast und eigentlich schon das Gefühl hattest, alles verstanden zu haben. Die Spannung vor der Rückgabe der Arbeit oder sogar ein Notenspiegel steigern die Nervosität, weil du hoffst, eine gute Note bekommen zu haben. Aber dann die große Ernüchterung: Es ist leider eine 4 und du fragst dich, wieso und was du falsch gemacht hast. Womöglich hat sich diese Situation sogar mehrfach wiederholt und du ließt dich jedes Mal wieder neu enttäuschen.
Wecken Erwartungen falsche Hoffnungen?
Ganz einfach ist es nicht, denn dieses Phänomen lässt sich auf das gesamte folgende Leben übertragen. Wir sind vielleicht schon längst aus der Schule raus und studieren in einer anderen Stadt, oder wir arbeiten gar schon. Doch dieser bittere Nachgeschmack bleibt sehr lange und die Situation wiederholt sich manchmal. Doch im Grunde genommen beschäftigen wir uns viel zu wenig mit den Erwartungen, die wir an das Leben haben. An unser Leben. Wenn wir ganz tief in uns gehen, dann stellen wir fest, dass eigentlich jeder Lebensbereich von Erwartungen durchwachsen ist, ob sie erfüllt oder nicht erfüllt werden. Wir erwarten, dass unser Partner uns versteht, oder dass man unsere Arbeit würdigt, dass unsere Familie uns eine Stütze ist, aber werden all diese Erwartungen wirklich erfüllt? Und wie gehen wir damit um, wenn sie es nicht werden? Ist es nicht unglaublich frustrierend, immer wieder die gleiche Erwartung nicht erfüllt zu bekommen?
Wenn wir uns der Partner eine Überraschung machen möchte, dann geht jeder von uns von einer ganz anderen Sache aus: Es kann ein schönes Mittagessen, ein Ausflug oder etwas Materielles sein. Doch je nach dem, was konkret wir erwarten, lauert in jeder dieser Erwartungen eine Enttäuschung. Erwarten wir ein romantisches Abendessen, dann stellen wir uns innerlich schon total darauf ein und durchdenken, und je nach dem, wie kreativ und fantasievoll wir sind, durchfühlen wir die Situation sogar schon.
Schon ein paar Minuten machen den Unterschied
Es ist fast unmöglich, bei einer Überraschung nicht zu rätseln, worum es sich handeln könnte. Irgendwie treiben die Gedanken doch sehr oft wieder dahin, was die Überraschung wohl sein könnte, egal wie wir uns auch abzulenken versuchen. Aber seien wir mal ehrlich: Das ganze Leben ist eine einzige Überraschung. Jeder Tag, an dem wir unsere Augen morgens öffnen, steckt voller unerwarteter Dinge, die sich nicht vorhersehen lassen. Wir wissen vielleicht einige Eckpfeiler, wie unsere Pflichten und ToDos, aber alles andere können wir nicht vorhersehen.
Früher war ich nicht die Pünktlichste. Es kam oft vor, dass ich morgens einige Minuten länger im Bett schlief, als es meiner Pünktlichkeit zuträglich gewesen wäre. Danach hatte ich Stress, alles zeitig zu schaffen, um den Bus nicht zu verpassen, der zu meiner Schule fuhr. Viele Male ging es gut, doch einige Male sah ich ihm von hinten beim Wegfahren zu. Die anschließenden 20 Minuten Wartezeit verbrachte ich mit meinem morgendlichen und noch etwas wirr-philosophischen Gedanken. Nur zu oft dachte ich daran, wie viele Veränderungen sich dadurch ergaben, dass ich eine Minute länger im Bad gebraucht hatte und welche Folgen daraus entstanden. Manchmal habe ich mich sogar geschämt, den nächsten Bus zu nehmen, um mitten im Unterricht hereinzuplatzen. Ich ging lieber spazieren und kam erst zur 5-Minuten-Pause, um die Peinlichkeit zu vermeiden. Daraus ergaben sich viele Fragen, ich verpasste natürlich den Schulstoff und musste diesen nachholen, was zur Folge hatte, dass ich entweder nicht mitkam oder weniger Freizeit hatte. Und das alles wegen der einen Minute mehr im Bad oder im Bett.
Was hatte ich erwartet? Vielleicht, dass der Bus 30 Sekunden später um die Ecke fuhr? Dass er ausfiel oder überfüllt war? Es war oft der Fall gewesen, aber ich konnte natürlich nie vorhersehen, wann der Tag war, an dem er später kam (damals gab es noch keine praktischen Apps fürs Smartphone).
Wir selbst stellen die Erwartungen an uns
Und je nach dem, ob wir erwarten, ob der Bus später kommt, oder früher, laufen wir zeitig los. So ist es auch im Leben. Es gibt sehr viele Dinge, die wir selbst beeinflussen können, doch die, bei denen wir es nicht können, sollten wir nicht mit Erwartungen überladen. Damit riskieren wir immer eine Enttäuschung oder sogar etwas, was uns richtig verletzen könnte. Vor allem, wenn sich diese Erwartungen an andere Personen oder ihr Verhalten richten. Wir können die Erwartungen an uns selbst stellen und versuchen, diesen gerecht zu werden. Denn wir sind eigentlich die einzigen, deren Erwartungen wir zu erfüllen versuchen sollten. Aber wir sollten niemals uns selbst dafür verurteilen, wenn wir es mal nicht schaffen. Wir sind Menschen, und Menschen machen Fehler und haben ihre kleinen Macken.
Es gibt aber auch Erwartungen, die ihre Daseinsberechtigung haben. Wenn wir als Kind zur Welt kommen, ist unsere indirekte Erwartung zumindest die Versorgung unserer Grundbedürfnisse. Genauso, wie wir von unseren Eltern erwarten, dass sie zu unserer Aufführung in der Schule kommen oder sich mit uns freuen. Es gibt viele Erwartungen, die unausgesprochen bleiben, aber dennoch ein Leben lang existieren und uns vielleicht auch wurmen, ohne uns wirklich bewusst zu sein. Es ist deswegen der erste Schritt, uns über unsere eigenen Erwartungen bewusst zu werden und sie im nächsten Schritt zu verstehen. Als Menschen haben wir in der Evolutionskette einen ganz entscheidenden Vorteil: Die Kommunikation.
Wir können über unsere Erwartungen sprechen, wenn wir sie sogar automatisch bilden. Wir können uns darüber austauschen und die anderen Menschen verstehen lassen, warum wir etwas erwarten und warum auch sie etwas erwarten. Damit machen wir einen wichtigen Schritt auch auf uns selbst zu. Wir lernen, uns selbst besser zu verstehen und auch unsere Bedürfnisse besser kennen. Idealerweise wissen wir irgendwann sogar vielleicht, was für uns die Essenz ist; die Erwartungen ohne die Erfüllung derer wir nicht leben können. Uns selbst zu verstehen ist der Schlüssel, um ein zufriedenes Leben ohne Reue zu führen und dem Glück ein Stückchen näher zu kommen, als wir es schon sind.
N H
Ein guter Artikel der ein gerade für Heranwachsende wichtiges Thema anspricht. Das Thema zoeht sich sogar noch auf der pluralistischen Ebene weiter: Die Auseinandersetzung mit affektiven Reaktionen auf Erwartungserfüllung bzw -Nichterfüllung spielt auch in der Verhaltensforschung und da va. in der Cognitive Psychology eine wesentliche Rolle. Das wird in zukünftigen Anwendungen für politische Kommunikation und soziale Veränderungen noch viel wichtiger werden.
VG