Vor rund einem Monat gab es einen Anschlagsversuch auf den Brüsseler Zentralbahnhof. Student Tim war an diesem Tag zufällig in Brüssel und wurde dort Zeuge einer Massenpanik. Wie er mit der Situation umgegangen ist, erfahrt ihr hier.
Paris, Brüssel, Berlin, London – Terror ist seit einigen Jahren sehr präsent in Europa. Wie präsent er ist, zeigte sich auch am Anschlagsversuch auf den Brüsseler Bahnhof „Gare Central“ am 20. Juni. Ein 36-jähriger Mann hatte versucht eine Kofferbombe zu zünden, die kleine Explosion verletzte niemanden. Daraufhin griff er einen belgischen Soldaten mit den arabischen Worten „Allahu akbar“ („Gott ist groß“) an, dieser reagierte mit mehreren Schüssen. Der Täter Oussama Zariouh starb in der Folge an seinen Verletzungen. Student Tim Hartmann (27) (Name geändert) war an diesem Tag in Brüssel und hat erlebt, wie man reagiert, wenn scheinbar unmittelbare Terrorgefahr droht. Er weiß nun, wie beklemmend Unsicherheit sein kann. Wie alle anderen Menschen in Brüssel hat er Glück gehabt – ihm ist nichts passiert.
Dabei war es reiner Zufall, dass er vor Ort war: Mit einer Studiengruppe der Bonner Universität besuchte er in der Woche vom 19. Juni bis 23. Juni verschiedene EU-Institutionen. Am zweiten Tag der Exkursion saß Tim abends mit Kommilitonen in einem Restaurant in der Innenstadt zwischen Zentralbahnhof und Grand-Place. Plötzlich geschahen mehrere beunruhigende Dinge, bevor das Chaos ausbrach: Zwei Polizisten schienen einem Mann mit Rucksack hinterher zu jagen, dumpfe, laute Geräusche verunsicherten die Gäste in den Restaurants und kurz danach bog eine rennende Menschenmasse um die Ecke. Einige Sekunden später war nichts mehr wie vorher – die ganze Geschichte findet ihr unter dem Kurz-Interview.
Auch wenn der Vorfall in Brüssel „nur“ ein Anschlagsversuch war und damit im Vergleich zu Anschlägen wie in Paris oder Berlin verhältnismäßig harmlos wirkt, lassen einen solche Erlebnisse sicher nicht kalt. Inwieweit hat dich das Erlebte beeinflusst – hast du jetzt mehr Angst, wenn du irgendwelche verdächtigen Geräusche hörst?
Wir, also meine Kommilitonen und ich, haben viel darüber geredet und aus der Perspektive heraus, dass wir das, was wir in der Situation beeinflussen konnten, ganz gut gemeistert haben, bin ich eigentlich zuversichtlich, dass mich sowas auch weiterhin nicht aus der Fassung bringt. Aber die Unsicherheit war schon krass und ich kann jetzt nachvollziehen, wie Massenpaniken entstehen können. Ich denke, dass ich jetzt in verdächtigen Situationen schon eher an solche Sachen denken würde. Allein durch den Aufenthalt in Brüssel war das Thema Terror oft präsent mit den ganzen Sirenen und Soldaten auf der Straße.
Was meinst du, wie du dich verhalten würdest, wenn du nochmal in so eine Situation kommen solltest? Daran will man natürlich gar nicht denken, aber sowas ist ja nie auszuschließen. Kann man sich überhaupt rational verhalten?
Naja, ich habe gesehen, man kann – das haben wir ja auch getan. Ich würde jetzt auf jeden Fall erstmal immer danach gucken, wo die Fluchtausgänge sind. Aber wie ich mich verhalten würde, wenn ich nochmal in so eine Situation gerate und was ich anders machen würde als jetzt in Brüssel, das kann ich so nicht sagen.
Fandest du es angemessen, dass die Polizei die Menschen von Straßen und Plätzen verscheucht hat und wollte, dass sie in die Gebäude gehen?
Ich fand es etwas fraglich, wie sich die Polizei verhalten hat, weil sie die Leute so in große Panik versetzt hat. Aber ich habe keine Ahnung von Einsatzplänen, Abläufen, etc. und weiß natürlich auch nicht, wie die Informationslage der Polizei war. Aber trotzdem fand ich es merkwürdig, wie sie sich verhalten hat.
Die ganze Geschichte – aus Sicht eines Zeugen
Erzähl uns bitte, was genau du in Brüssel an dem Abend des versuchten Anschlags erlebt hast.
Also, wenn man an Brüssel denkt, muss man sich generell vorstellen, dass überall in der Stadt Dreiertrupps von Soldaten rumlaufen, die mit Gewehren patrouillieren. Du hörst auch die ganze Zeit Sirenen. An diesem Abend saßen wir zu viert in der Innenstadt beim Italiener auf der Terrasse und warteten gerade auf unser Essen.
Die kleine Gasse, in der wir saßen, war mit Leuten in allen möglichen Restaurants gefüllt und die Stimmung war gut. Auf einmal liefen zwei Polizisten einem Typen mit Rucksack hinterher und zuerst dachten wir, sie sind hinter ihm her, aber dann deutete er ihnen in eine bestimmte Richtung und sagte sowas wie: ‘This way, faster, faster.‘ Als wir das mitbekamen, haben wir noch gescherzt, so nach dem Motto ‘Ja passt auf, gleich gibt’s hier ‘nen Anschlag oder so, wir sind ja schließlich in Brüssel.‘ Dann war wieder alles normal, unsere Pizzen wurden gebracht und wir fingen an zu essen. Auf einmal gab es zwei laute Geräusche, die hörten sich ungefähr so an: ‘Dudum, dudum‘. Nicht alle haben das mitbekommen, aber einige Gäste guckten sich um und schienen sich genau wie wir zu fragen, was das für Geräusche waren. Die Geräusche kamen von hinten aus Richtung Grand-Place.
„Run, run, run!“
Plötzlich hat ein Kollege unserer Unigruppe angerufen, fragte, ob wir das Geräusch auch gehört hätten und wollte wissen, wo wir sind. Er erzählte: ‚Ich bin noch auf dem Grand-Place und hier ist ‘ne richtig komische Stimmung – die Leute gucken sich die ganze Zeit um, und schauen nach, ob irgendwas los ist.‘ Dann hörten wir laute Stimmen und Schreie durchs Handy. Er meinte dann: ‚Okay, irgendwas passiert hier gerade…‘ und wir hörten nur noch durchs Handy sehr deutlich jemanden, der ‘run, run, run!‘ rief. Wir haben dann aufgelegt, weil er erstmal schauen wollte, was da vor sich geht. Während wir uns über die bizarre Situation unterhielten und versuchten, die Rufe am Grand-Place, die dumpfen Geräusche und die rennenden Polizisten in einen Zusammenhang zu bringen, hörten wir auf einmal Stimmen, die immer lauter wurden. Alle Menschen in den Restaurants schauten sich um – einige hatten einen panischen Ausdruck im Gesicht. Dann sahen wir eine Menschenmasse, die um die Kurve der Straße bog und genau auf uns zu rannte, die Menschen waren am Sprinten. Bei dem Anblick sind die Leute in den Restaurants fast alle augenblicklich aufgesprungen, Tische und Stühle wurden umgerissen und beiseite gekickt. Sie fingen an, in die gleiche Richtung zu laufen, in die die Masse lief.
Wir vier hatten etwas mehr Reaktionszeit, weil wir weiter weg von der heranlaufenden Masse entfernt waren. Als wir die Situation realisiert haben, sind zwei aus unserer Gruppe auch sofort losgelaufen – ich sah noch das panische Gesicht von einem meiner Kommilitonen und kurz danach war er schon losgerannt. Der andere sogar ohne Schuhe, er hat auch seine Tasche und alles andere stehen und liegen gelassen. Mein anderer Kollege und ich, wir sind auch aufgesprungen, aber wir sind nicht blind losgelaufen – wir haben uns umgeguckt und beschlossen, dass wir nicht mit dem Strom mitschwimmen wollen, sondern uns erstmal vor der Masse an Menschen in Sicherheit bringen und deshalb irgendwie zur Seite entfliehen sollten. Wir sind dann ins Innere des Restaurants durch ein offenes Fenster gesprungen, um da erstmal einen Plan zu machen. Die Leute, die am Restaurant vorbeiliefen, riefen Sachen wie „Shootings at the Grand-Place“ und andere Warnungen auf allen möglichen Sprachen. Natürlich hat uns das Angst gemacht, denn wir hatten die Polizisten, die an uns vorbeigelaufen waren im Kopf, die Geräusche, die wir nicht einordnen konnten und das Telefonat mit unserem Kollegen am Grand-Place.
Habt ihr dann dem Instinkt nachgegeben, den Leuten zu folgen, die an euch vorbeiliefen?
Nein, nein, wir haben versucht, klar zu denken. Die Straße war mittlerweile leergefegt, außer uns waren nur noch ein Pärchen und die Kellner da. Die Mitarbeiter waren nicht so panisch, sie sind sogar rausgegangen, haben geraucht und wirkten noch relativ gefasst. Das hat uns etwas beruhigt. Aber auf der anderen Straßenseite wurden währenddessen Rollos runtergelassen und Geschäfte verbarrikadiert. Dann dachten wir uns: War das jetzt mega dumm von uns hier zu bleiben, oder war das schlau?‘ Wir hatten schon Angst, weil wir nicht wussten, was überhaupt los ist und ob gleich irgendein Terrorkommando ins Restaurant reinkommt, so wie das in Paris war. Man wird dann auch etwas verrückt und überlegt sich, womit man sich im Zweifelsfall verteidigen kann: Wir haben dann den Laden inspiziert, eine Treppe nach oben entdeckt und uns gedacht, dass wir im Zweifelsfall da hoch sprinten und uns mit Stühlen und Tischen verteidigen. Danach haben wir erstmal abgewartet und sind dann wieder raus, um zu sehen, was passiert. Dieser Moment, in dem nichts geschehen ist, dauerte vielleicht eine Minute.
Wir guckten vorsichtig um die Ecken und suchten nach Deckung
Dann kamen in kurzer Zeit zweimal Polizisten in Zweierteams vorbei und sagten den Leuten nur, sie sollen reingehen. Wir haben daraufhin unsere Sachen eingesammelt und uns trotzdem mit anderen Leuten ausgetauscht, die jetzt langsam wieder auf die Straße kamen. In dem Moment rief unser Kollege vom Grand-Place an und sagte uns, wo er sich befindet. Er konnte von da aber nicht weg, weil rund um ihn herum alles von der Polizei abgesperrt worden war. Es wurde dann so ruhig, dass wir einen Moment dachten, es sei wieder alles ok und wir sogar über so banale Sachen nachgedacht haben wie, ob wir jetzt für vier Leute die Pizzen bezahlen müssen.
Dann aber kam von jetzt auf gleich eine Personengruppe genau aus der Richtung gelaufen, in die die ganzen Menschen vorher gerannt waren und auch diese Leute waren am Rennen. Wir dachten uns in dem Moment ‘okay, wir laufen jetzt mit dem Strom mit und kommen ums Bezahlen für die anderen herum.‘ Mein Kommilitone und ich, wir liefen in die Richtung des Grand-Place, um zu versuchen, unseren anderen Kollegen zu finden. Wir wollten aber nicht auf direktem Weg zu dem Platz, weil wir uns dachten, wenn etwas passiert ist, dann dort und haben deshalb versucht, irgendwie drum herum zu gehen.
Auf dem Weg dahin wirkte die Stadt zuerst wie ausgestorben … aber ein Stückchen weiter kamen wir durch Gassen, in denen die Menschen komischerweise ganz entspannt in Cafés saßen und anscheinend nichts von der Panik mitbekommen hatten.
Das Merkwürdige: Ein, zwei Straßen weiter aber war wieder kaum jemand unterwegs und die Leute spähten vorsichtig aus den Fenstern, so nach dem Motto ‘Was ist hier los?‘ In dem Bereich sind wir dann sehr vorsichtig durch die Straßen und guckten immer vorsichtig um die Ecken, ob da irgendwer oder irgendwas ist und ob man in der nächsten Straße irgendwo Deckung finden kann im Zweifelsfall. Wir sind dann nur punktuell vorwärtsgegangen, von Deckung zu Deckung im Prinzip.
Das klingt ja wie im Krimi. Wer war denn zu dem Zeitpunkt noch dabei – nur du und dein anderer Kommilitone?
Ja, so haben wir uns auch ein wenig gefühlt. Genau, nur wir beide. Dann kamen wir schließlich an eine Art Rondell: Dort waren lauter Polizisten, die den Bereich abriegelten und den Leuten sagten, sie sollen sich entfernen und in die Gebäude gehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber warum und was überhaupt los ist, haben wir nicht erfahren. Wir kamen da nicht weiter und haben nochmal unseren Kollegen am Grand-Place angerufen: Der musste mittlerweile schon in ein Hotel gehen, weil die Polizei ihn da aus Sicherheitsgründen reingedrängt hatte. Als feststand, wir können ihn eh nicht mehr finden, haben wir uns auf den Weg in unser eigenes Hotel gemacht. Da wo wir lang mussten, waren die Leute ganz normal beim Shoppen und gingen ihrer Arbeit nach, so als sei nichts passiert.
Wie kann das denn sein, wenn vorher noch so viele Straßen verlassen schienen?
Unser Hotel war in der entgegengesetzten Richtung vom Zentralbahnhof und weiter weg vom Grand-Place. Wir haben uns natürlich trotzdem gewundert und uns gefragt, was da jetzt überhaupt geschehen ist, aber es kamen auch keine Eilmeldungen rein oder so. Mein Kommilitone hat zwischendurch auch bei Twitter nachgeguckt, aber da gab es auch nichts.
Da muss nur einer laut furzen, dann brechen die Leute hier in Panik aus.
Man hörte nur überall Sirenen, aber das ist für Brüssel wohl schon normal. Aber davor, als wir noch in diesem Bereich waren, wo die Menschen die Unruhe mitbekommen haben, saßen an einer Straße drei Belgier, die hervorstachen: Sie waren einfach am Chillen, als sei nichts gewesen. Ich habe dann einen von ihnen gefragt, ob er weiß, was los ist, aber der meinte nur: ‘Ach Jungs, das ist normal hier, hier ist wahrscheinlich gar nichts los. Das passiert gefühlt jeden zweiten Tag – da muss nur einer laut furzen, dann brechen die Leute hier schon in laute Panik aus.‘ Naja, dann kamen wir irgendwann im Hotel an.
Wie lange hat es von den Unruhen in der Innenstadt bis zu eurer Ankunft im Hotel denn ungefähr gedauert?
Hmm, der Zeitraum zwischen den komischen Geräuschen und unserer Ankunft im Hotel, das waren vielleicht insgesamt so ca. 45 bis 50 Minuten. Dort haben wir dann andere Leute getroffen, die erzählten, was ihnen passiert ist und gemeinsam versuchten wir, das Geschehene zu rekonstruieren. Das mit den „Run, run, run“-Rufen auf dem Grand-Place konnten wir wohl so einigermaßen aufklären: Zwei Mädels unserer Studiengruppe saßen zum Zeitpunkt der Unruhen auch auf dem Grand-Place wie unser Kollege, als es wohl plötzlich Tumulte gab. Aus einer Gasse kamen dann ganz viele Polizisten in voller Montur und mit Hunden gelaufen und riefen zu den Leuten auf dem Platz „Run, run, run“ und zeigten dabei in eine bestimmte Richtung.
Habt ihr denn im Hotel erfahren können, was tatsächlich passiert ist?
Ja, irgendwann als wir da zusammensaßen, kamen endlich mal Meldungen rein, da haben wir dann aber festgestellt, dass die so auf keinen Fall stimmen konnten, denn die Informationen passten nicht ganz zu dem, was wir selber erlebt haben. Aber natürlich haben wir so erfahren, dass es einen Anschlagsversuch am Zentralbahnhof gab.
Tim, wir danken dir für das Gespräch.
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