Als zukünftige Abiturientin kann ich von mir behaupten, den Vorgang der Zellteilung beschreiben zu können, Grundkenntnisse der Vektorrechnung erworben zu haben, zu wissen, dass Goethes Faust keinen Pakt, sondern eine Wette mit dem Teufel abschließt und zu verstehen, wie sich das empirisch-analytische Vorgehen der Zukunftsforschung auf mein Leben anwenden lässt. Ich bin froh, all diese Dinge gelernt zu haben, doch je mehr sich mein Blick auf die Zeit nach der Schule richtet, desto nebensächlicher erscheinen sie mir. Denn je weiter man in seiner schulischen Laufbahn fortschreitet, desto spezifischer wird das Wissen, das man erwirbt. Aber ist das wirklich sinnvoll?
Das Abitur, auch die allgemeine Hochschulreife genannt, sollte uns optimal auf jedes spätere Studienfach, jede spätere Ausbildung und vor allem auf unser Erwachsenenleben vorbereiten. Die Möglichkeiten, die uns nach der Schule offen stehen, werden immer vielfältiger, wohingegen die gymnasialen Lerninhalte schon ziemlich lange ziemlich gleich geblieben sind. Dabei werden die Anforderungen, die nach dem 18. Lebensjahr an uns gestellt werden, immer verworrener und bürokratisch-verklärter.
Woher das Allgemeinwissen nehmen?
Zu verstehen, was DNA ist und inwiefern sie uns ausmacht, hilft mir nicht, mich gesund zu ernähren und rechtzeitig zu erkennen, wann meinem Körper etwas fehlt. Ich kann nichts mit Vektorrechnung anfangen, wenn es darum geht, meine Steuererklärung zu machen oder den Sinn der Börse zu verstehen. Goethe wird es niemals schaffen, mir die Ausschreitungen in der Ukraine, in Syrien und in Hongkong verständlich zu machen. So wichtig es sein mag, eine Methode zu lernen, mit der sich Teile meiner Zukunft absehen lassen, so werde ich auf diese Art nicht herausfinden, wo ich am besten mein Kreuzchen machen sollte. Und kein Schulfach, das ich bisher kennengelernt habe, hat es geschafft, mich auf die Allgemeinwissenstests vorzubereiten, die immer mehr Betriebe, Universitäten und Akademien in ihre Bewerbungsverfahren integrieren.
Ich stelle nicht unser Schulsystem in Frage, da ich glaube, dass dieses System gut funktioniert und mit den richtigen Inhalten noch wesentlich besser funktionieren könnte. Nur halte ich es schlicht für ineffizient, den Unterricht mit Themen zu füllen, die wir Schüler nach unserer Schulzeit nur brauchen, wenn wir genau dieses Fach später studieren. Das, was wir in der Oberstufe beispielsweise in Biologie lernen, wird an der Universität im Studiengang Biologie noch einmal wiederholt, wenn auch in kurzer Zeit: einer Woche oder sogar in vorgestellten Kursen. So verhält es sich nicht nur mit den Nebenfächern, sondern auch mit den Hauptfächern Mathematik, Deutsch und Englisch. Natürlich sollte man die herkömmlichen Schulfächer auch in der Oberstufe belegen können, aber spätestens nach dem Erlangen der mittleren Reife ist ein Paradigmenwechsel mehr als nötig. Sozialkunde, das zurzeit erst ab der 8. Klasse je eine Stunde pro Woche unterrichtet wird und in den Mainzer Studien je nach Leistungskurskombination nicht einmal als Grundkurs belegbar ist, sollte schon viel früher einen höheren Stellenwert erhalten.
Wer ist derzeitiger Gesundheitsminister?
Darüber hinaus fehlt in der Schule in aller Regel die Möglichkeit, über das aktuelle lokale und globale Geschehen zu reden. Natürlich ist ab dem Teenageralter auch die Initiative der Schüler gefragt, sich selbst über Zeitungen, das Internet und über Newssendungen über das Weltgeschehen zu informieren, doch oft bleibt dafür nur wenig Zeit. Ich selbst bin seit Jahren an Politik interessiert, aber für mehr als das morgendliche Überfliegen der Titelseite der lokalen Tageszeitung und die wöchentliche heute-show reicht es um ehrlich zu sein nur selten. Je älter wir werden, desto mehr hält uns der Gedanke an unsere Zukunft auf Trab; er bringt uns dazu, uns in der Schule anzustrengen, Hausaufgaben zu machen, an Tagen der offenen Tür Universitäten einzurennen und Praktika zu absolvieren. Wie wichtig das ist, das bei all diesem Treiben auf der Strecke bleibt, wird uns erst dann bewusst, wenn wir mit vielen anderen Bewerbern in einem Raum sitzen, und die Frage beantworten sollen, wer der aktuelle Bundesminister für Gesundheit ist und wir lediglich verzweifelt denken: Warum gibt es keine Frage zu radikalischer Substitution?
Die Ansicht, dass es neben konkretem Faktenwissen auch sehr wichtig ist, grundlegende Kompetenzen zu erwerben, wird beispielsweise in dem innovativen Lernprogramm an der schwedischen Viktor-Rydberg-Schule deutlich vertreten. Hier ist das Computerspiel „Minecraft“ fest im Lehrplan integriert, durch das Schüler spielerisch ihr räumliches Denken, ihre Kreativität und ihre Teamfähigkeit verbessern können. Aktuell wird besonders viel Wert darauf gelegt, uns wissenschaftliches Denken nahe zu bringen, um unsere Fähigkeit zu stärken, kritisch zu hinterfragen und differenziert an komplexe Themen heranzugehen. Das ist wichtig, doch hierbei bleibt geht ein weiterer wichtiger bildungspolitischer Aspekt verloren. Wenn man sich selbst und seine Fähigkeiten praktisch erproben will, bleibt dafür nur Zeit in den Ferien, doch die sind einem in der stressigen Oberstufenzeit oft zu kostbar, um sie für freiwillige Praktika zu nutzen. Doch gerade die sind eine sehr gute Entscheidungshilfe für unsere Berufs- und Studienwahl und geben im Lebenslauf oft mehr her als der Numerus Clausus. Statt übermäßiger Kursarbeiten sollte es in der Schulzeit mehr Raum für Praktika geben; denn es ist wichtiger, sein persönliches Spezialgebiet zu finden, als 13 Jahre lang versuchen zu müssen, in das offizielle Bild eines klugen, begabten Schülers hineinzupassen.
Erinnert sich noch jemand an die Zeit, in der Linda de Mol nach dem klügsten Kind Deutschlands gesucht hat? In dieser Show wurde vieles abgefragt, aber sicherlich nicht das, was diese Kinder in der Schule gelernt haben. Zwar gehen wir mit einem hohen Maß an erworbenem Wissen von der Schule ab, aber das bedeutet nicht, dass wir dadurch weltgewandt geworden sind. Es ist schon ironisch, wie sehr wir in den letzten Jahren als Schüler dafür kämpfen, uns von unseren Eltern zu emanzipieren, und wir sie, kaum, dass wir das Abitur in der Tasche haben, mehr denn je brauchen. So sehr wir uns über unsere eigene Hilflosigkeit ärgern, so gut ist es doch, jemanden auf der Kurzwahltaste zu haben, der uns beraten kann, wenn wir Bewerbungen schreiben müssen, unser Vermieter seine Aufgaben nicht erfüllt oder uns der Gebrauchtwagenhändler über den Tisch ziehen will.
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