Die Zahl der psychischen Krankheiten nimmt in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu, die Ursachen sind vielfältig. Der Lebensstandard der Menschen wird immer besser, doch viele Menschen werden dennoch immer unglücklicher. Unser Autorin fragt: Wie kann das sein?
„Immer weiter, immer schneller, immer besser“ – wenn man die postmoderne Gesellschaft unserer Generation beschreiben sollte, würde es dieses Motto sicherlich auf den Punkt bringen. Es gibt ständig neue Erfindungen, die uns das Leben erleichtern sollen, die Welt scheint in rasendem Tempo in Bewegung zu sein und die Medien predigen tagein tagaus, man solle nichts verpassen, die Zeit nutzen, solange man noch jung ist, denn die Zeit rennt, das Leben ist kurz und sowieso, schlafen kann man genug, wenn man tot ist! Da scheint ein Hunger in uns zu sein, den nichts stillen kann. Ein Hunger nach mehr, nach genug. Denn wie kann es jemals genug sein, wenn man doch immer mehr, etwas Neueres, etwas Besseres haben könnte? Der Fortschritt der Postmodernen schafft einen riesigen leeren Raum, den nichts mehr zu füllen vermag. Der Abstand zwischen den Menschen wird immer größer, Kontakt findet zum größten Teil über die Weiten des Internets in Form von Social-Media-Plattformen oder Nachrichtendiensten wie WhatsApp statt. Und wir werden immer einsamer in diesem grenzenlosen Universum des World Wide Web.
Jede zweite Krankschreibung geschieht aufgrund einer psychischen Erkrankung
So begeben wir uns auf die Suche, nach etwas, das die Leere in uns füllt. Und was wir finden sind die Appetithappen des 21. Jahrhunderts: die tollsten Klamotten, das neuste iPhone; Konsum im Überfluss, oder aber Drogen, Alkohol, flüchtige Bekanntschaften auf Parties – eine Welt des Wahns(-inns) und der Illusion von Zweisamkeit. Fakt ist, physisch ging es uns nie besser, denn kein Mensch, der in einer der postmodernen Industrienationen der westlichen Welt zu Hause ist, muss noch Hunger leiden; Die Medizin macht täglich neue Fortschritte, Bildung gehört zum Pflichtprogramm und die Wunder der Elektrizität sind für unsere Generation längst Selbstverständlichkeit.
Doch die Zahlen der stetigen Zunahme der psychischen Krankheiten sind erschreckend. Laut dem BKK Gesundheitsreport 2013 stieg der relative Anteil psychischer Erkrankungen als Grund für Arbeitsunfähigkeit in den vergangenen 38 Jahren von zwei Prozent auf 14,7 Prozent. Noch vor 20 Jahren waren psychische Krankheiten nahezu bedeutungslos, heute geschieht jede zweite Krankschreibung aufgrund einer psychischen Erkrankung wie Depressionen, Essstörungen oder Burn-Out.
Zurück in „die guten alten Zeiten“?
Kein Wunder! Würde ich sagen. Wir sollen funktionieren wie Maschinen; die Ausbildung in immer kürzerer Zeit abschließen, Begriffe wie „Effizienz“, „Leistungssteigerung“ und „Disziplin“ schwirren durch die Luft wie Mücken im Hochsommer. Schön muss die Frau von heute sein, perfekt und möglichst androgyn. Erst neulich habe ich ein Buch von Rita Mae Brown gelesen: „Riding Shotgun“. Die Hauptfigur Cig stolpert ganz unversehens von dem Jahr 1995 in die britische Kolonie Virginia des Jahres 1699 – die Vereinigten Staaten von Amerika gab es noch lange nicht, die „Neue Welt“ war schließlich gerade erst entdeckt. Zu ihrer Überraschung muss Cig feststellen, dass es ihr in dieser Welt eigentlich viel besser gefällt, als in ihrer eigenen; dem Amerika des 20. Jahrhunderts.
Neben einigen Unannehmlichkeiten wie der fehlenden Elektrizität oder der Tatsache, dass das Wasser aus einem Brunnen kommt, anstatt aus dem Wasserhahn, scheinen die Menschen von damals viel glücklicher zu sein. Für sie war am wichtigsten, dass die Familie beieinander ist, das alle gesund sind, sie ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen haben. Eine einfache, überschaubare Welt. Ich frage mich, ob wir in unserer heutigen grenzenlosen Welt, in der scheinbar alles möglich ist – und weniger ist einfach nicht genug – vielleicht zu oft vergessen, worauf es wirklich ankommt: Dass wir am Leben sind.
Christian
Es ist gut, dass mehr und offener über paychiatrische Erkrankungen gesprochen wird. Bezüglich der Häufigkeit und der möglichen Zunahme psychischer Erkrankung gibt es jedoch unterschiedliche Meinungen. Die Zunahme der Krankschreibungen durch psychische Erkrankungen korreliert nicht umbedingt mit der Anzahl psychisch Kranker.
LeLe
Trotzdem sollten wir nicht den Fehler begehen “gute alte Zeiten” zu glorifizieren, das ginge in eine ähnliche Richtung wie das Romantisieren von Armut in Drittweltstaaten weil die Menschen “so viel mehr” besäßen und wir sie mit dieser Haltung sogar physisch in einen Zoo sperren, in dem wir uns nach Belieben aus unserer sicheren Situation heraus die “heile Welt” ansehen können. Ohne die Effizienzsteigerung der letzten Jahre wären eine ganze Reihe medizinischer und technischer Fortschritte gar nicht möglich gewesen, vermutlich inklusive dem Internet und somit dieser Plattform 😉
Sicher muss ein Weg gefunden werden um den Ausgleich für den Menschen in diesen Zeiten zu schaffen, aber es fängt ja schon bei jedem selbst an. Ich studiere zB sehr intensiv und verwende nach Ansicht meiner Kommilitonen extrem viel Freizeit dafür auf, entsprechend fallen Aufforderungen wie ich solle auch mal länger Pause machen weil niemand so viel Arbeit vertrage. Die Sache ist, dass ich das gar nicht wirklich als Stress wahrnehme. Ich studiere keine einfachen Fächer und es ist anstrengend, aber sie machen mir Spaß, bestimmt auch weil ich nicht schlecht darin bin und das Erfolgserlebnis mich anspornt. Ich will nicht sagen, dass psychische Erkrankungen unterschätzt werden dürfen, aber so viel wie davon mittlerweile geredet wird könnte man meinen, in einigen Fällen handele es sich bereits um den Placebo-Effekt, bloß weil ein Symptom aufgetaucht ist oder (ich mutmaße) weil manche sich vielleicht auch wünschen sie hätten ihr absolutes Limit “endlich” erreicht. Letzteres wiederum würde ich eher in eine generelle Unzufriedenheit der Lebenssituation einordnen, sei es weil man nicht seinem Wunschberuf nachgehen kann oä. Worauf ich mit diesen ellenlangen Zeilen hinaus will ist, dass es jeder bis zu einem nicht kleinen Grad in der eigenen Hand hat, wie sie oder er sein Leben gestaltet und dass unsere Selbstwahrnehmung auch von der Umwelt und den Aussagen unserer Mitmenschen beeinflusst wird.