Nachdem ich mich intensiv mit dem Zusammenhang der Schönheitskultur und den Essstörungen Jugendlicher auseinandergesetzt habe, wurde mir erstmals klar, wie verrückt die gesellschaftlich anerkannten Bedingungen für Schönheit überhaupt sind. Die Schönheitskultur wurde von der Schlankheitskultur abgelöst. Der Badeanzug vom Bikini. Das Fleisch von Rohkost. Kleidergröße 36 von Kleidergröße 34. Seit jeher waren Analogien, Gleichnisse und Geschichten die schönste und einfachste Form, Gegebenheiten zu hinterfragen, eine neue Perspektive einzunehmen und schlichtweg etwas zu lernen. Deshalb habe ich mich an eine kleine Geschichte gemacht, um zu zeigen, wie sich das Bild des Schönen auch hätte entwickeln können. Beim Lesen sollte immer klar sein, dass es bloß eine Geschichte ist, die aber immer auf die Realität um uns herum anspielt und zum Nachdenken anregen soll.
Der Anfang des Kults
Stellen wir uns vor, dass vor einigen Jahrzehnten die Menschen der westlichen Welt dazu übergegangen sind, eine bläuliche Hautfarbe als modisch und attraktiv anzusehen. Das fing damals in ersten Filmen an und machte dann in Hollywood schnell die Runde. Nachdem auch die Fotografie und damit die Magazine und Zeitschriften die blaue Hautfarbe für sich entdeckt hatten, trat ein regelrechter Hype der Bläulichkeit in der Modewelt ein. Ab sofort konnte man gar nicht mehr blau genug sein. Die Models zeigten der Gesellschaft genau, wo es lang gehen soll. Wie man zum „Wunsch-Blau“ gelangen kann, war schnell kein Geheimnis mehr. Man musste nur möglichst wenig atmen. Wenn man nur flach und selten genug die Luft in die Lunge saugte, so konnte man recht schnell das ekelige Weiße aus dem Gesicht und dem sonstigen Körper verlieren.
Heute gibt es extra Breath-Watcher-Gruppen, die peinlich genau darauf achten, den BMI (Breath Mass Index), durch kluges Einteilen der Atemzüge und den Konsum von leichter Luft zu reduzieren. Vor dem Fernseher stehen komisch anmutende Geräte, aus denen Schläuche hervorgehen. Aus diesen kann sich die ambitionierte Hausfrau die täglich zu inhalierende Portion „Light Air“ besorgen. Vor allem die Frauen besuchen Geschäfte, die vorwiegend „Light Air“ zur Verfügung stellen. Beim Sport versucht der kontrollierte Mensch des 21. Jahrhunderts nur die möglichst gut zu verbrauchende Luft einzuatmen. Ansonsten bringt schließlich aller Sport auch nichts. Doch wenn man ihn in richtiger Weise ausführt, so kann der Sport enorme Erfolge bringen! Denn der einzige Sinn körperlicher Ertüchtigung kann nur noch im Verstärken der blauen Farbe stecken.
Und auch hier… die Wunderpillen
Die Pharma-Industrie ihrerseits hat ebenfalls die Nische des „Bläulichkeitswunschs“ für sich entdeckt. Es gibt alle möglichen Pastillen, Pulver und Shakes, um das Wunschblau mit noch weniger Mühe und Arbeit zu erreichen. Dabei gibt es zum einen Mittel, die einfach nur das Atembedürfnis herabsetzen, zum anderen aber auch solche, die dazu führen, dass der Körper den schlechten Teil der Luft (also den Sauerstoff) möglichst ungenutzt wieder ausscheidet. Verpönt, aber doch immer wieder genutzt, sind gewisse Abführmittel. Diese führen zu kurzen aber heftigen Hustenattacken, die auch den letzten Rest Luft aus der Lunge transportieren. Allerdings wird diese Methode aufgrund der Unannehmlichkeiten nur von sehr fortgeschrittenen Mitmenschen angewandt. Diese sind dann allerdings häufig schon so blau, dass sie von der Gesellschaft leicht verstoßen werden. „Das ist dann doch zu viel des Guten“, lautet dann häufig das abwertende Urteil der Gesellschaft.
Die „Süchtigen“
Diese Randgruppe der Gesellschaft schafft ihre eigene Welt in Foren und WhatsApp-Gruppen. Hier tauschen sich junge Mädchen und Jungen aus, wie sie mit der ständigen Atemnot zu Recht kommen und welche Tipps sie für die anderen haben. Die Nebenwirkungen und Langzeitschäden eines solchen Lebensstils bleiben vollkommen unbelichtet. Man weiß nur eins: Je weniger Luftkonsum und je blauer, umso besser. Nach dieser Doktrin ersticken sich viele in den Tod. Jedoch bleibt das in der Öffentlichkeit häufig unbemerkt. Selbst wenn man mal den ein oder anderen sieht, der wie ein Schlumpf durch die Stadt läuft, so kann man doch sehr gut an diesem Problem vorbeisehen. Es bleibt unter dem Deckmantel der Privatsphäre, wenn einzelne Mitmenschen nach jedem Atemzug auf die Toilette stürmen, um sich die Lunge erneut zu entleeren. Natürlich weiß jeder, dass das auf Dauer nicht gut gehen kann, aber generell funktioniert doch alles ganz gut. Solange der andere nicht zu weiß ist, kann das Problem nicht allzu schlimm sein.
Es gibt für jedes Problem eine Lösung
Für das natürliche, jugendliche Blau gibt es auch zahlreiche Apps. Diese unterstützen den Nutzer mit detaillierten Atemplänen, gepaart mit Sportworkouts. Mit einem kleinen Band am Handgelenk kann man sogar die Atemzuganzahl des Tages errechnen. Alles wird genau dokumentiert und ausgewertet. Bloß keinen Atemzug zu viel! Das Wunschblau kommt schließlich nicht vom Himmel gefallen und nur die wirklich ehrgeizigen Menschen erreichen, was sie verdienen. Für diejenigen, die atemsüchtig bisher ihr ganzes Leben lang unverantwortlich viel und gut geatmet haben, gibt es auch operative Möglichkeiten. So bieten zahlreiche Kliniken nun Lungenbinder an. Mit einer darauffolgenden Therapie und Weiterbehandlung, kann auch bei diesen Menschen die Bläulichkeit zurück ins Leben geholt werden.
Das Fazit
Egal, auf welchen Schönheitswahn man diese Geschichte nun anwendet, es bleibt immer die gleiche Erkenntnis: Schönheit ist nur schön, wenn sie dich auch reizen würde, wenn du ganz alleine auf dieser Welt wärst. Unabhängig von der Gesellschaft lässt sich kaum klären, wie ein menschlicher Körper auszusehen hat, was er zu tragen hat und wie er dargestellt werden sollte. Wenn der gesellschaftliche Druck auf den Einzelnen immer weiter zunimmt und er auch bald die kollektiven Normen als seine eigenen ansieht, so wird es düster um das Menschengeschlecht. Es braucht mutige junge Menschen, wie Dich, die Licht in den Schatten von Wirtschaft, Magerkult und Normalitätsdrang werfen. „Sapere aude“, gilt damals wie heute. Jeder hat seine individuelle Schönheit, die er mit Würde tragen darf, soll und muss. Wer jedoch trotzdem stupide dem Schlankheitswahn der Mode hinterherläuft, sollte sich darüber bewusst sein, dass er genauso gut einem Blauheitswahn folgen könnte. Ich hoffe das klingt absurd genug.
Guten Appetit.
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