Es ist wohl das tragischste Schauspiel, dem man beiwohnen kann. Du musst zusehen, wie ein eigentlich glückliches und fröhliches Mädchen sich scheinbar grundlos an den Abgrund des Hungertodes abmagert. Falls man den häufig zum Scheitern verurteilten Versuch unternimmt, ein solches Mädchen vor den Folgen ihres Handelns zu schützen, erhält man schnell Einblicke in die dunklen Räume einer Krankheit namens Magersucht. Die Angehörigen und Freunde der Betroffenen sind häufig hilflos und müssen dann auch nicht selten nach recht kurzer Zeit ihre Überforderung eingestehen. Der eigenen Tochter oder Freundin beim Abmagern zuzusehen, stößt anfangs noch auf bloßes Unverständnis, wandelt sich aber schnell in Ärger, Sorge und Angst, um letztlich leider viel zu oft nur die Verzweiflung zurückzulassen.
Der Versuch einer Erklärung
Die Frage nach dem „Warum“ beschäftigt das Umfeld der Betroffenen extrem stark, da man nicht selten den Schuldigen ausmachen möchte bzw. die eigene Schuldfrage klären möchte. An und für sich können die magersüchtigen Mädchen generell alles haben, die Lebensumstände lassen theoretisch drei warme Mahlzeiten am Tag zu und selbst die einstigen Lieblingsgerichte werden von vielen Magersüchtigen verweigert. Das heißt, die Gründe für eine Magersucht liegen tief in den individuellen Abgründen der Psyche. Im Charakter lassen sich einige Eigenschaften ausmachen, die eine Form der Anorexia Nervosa (Magersucht auf Fachchinesisch) begünstigen. Häufig verschreiben sich die Betroffenen in allen Bereichen des Lebens einem ungewöhnlichen Perfektionismus und legen großen Ehrgeiz an den Tag, ihre Ziele zu erreichen. Solche Jugendliche zeigen auch nach außen hin immer eine klare Kontrolle ihrer Triebe und Affekte. Da wird nicht ein einziges Mal richtig über die Stränge geschlagen.
Auf der anderen Seite kann der Magersucht auch ein bereits selbstzerstörerisches Verhalten vorausgehen. Dafür ist das allseits bekannte Ritzen nur ein Beispiel unter vielen. Depressionen und Probleme mit sich selbst als Vorläufer der Magersucht gehen häufig mit Minderwertigkeitskomplexen einher. Untersucht man die Gründe einer solchen Symptomatik, gelangt man dann auch häufig zu einem früh empfundenen Gefühl der Unzulänglichkeit. Diese früh empfundene Abwertung versucht der Jugendliche in der folgenden Entwicklung zu kompensieren. Eine Magersucht stellt dabei eine „Überkompensation“ dar.
Die Schönheitskultur gibt den Rest
Ob man durch Modezeitschriften blättert oder durch das Fernsehprogramm zappt, immer wird man mit dem gleichen Bild der Attraktivität bespielt. Schlank und dünn bzw. dürr zu sein ist kein Zeichen von Unterernährung, sondern Ausdruck gesellschaftlich geachteter, scheinbarer Tugenden. Schlanke Menschen symbolisieren Stärke und Selbstbeherrschung. Sie verkörpern den Vorzeigemenschen des 21. Jahrhunderts: enthaltsam, engagiert und kontrolliert. Eine solche Person wird häufig sogar partout als gesund dargestellt. Der mangelnde Wahrheitsgehalt dieser Aussage wird leider trotzdem nur viel zu selten kritisiert. Die Aussage „Je dünner, desto besser“, hat biologisch und ernährungswissenschaftlich schlicht kein Fundament. Meine Fortführung dieses Artikels wird diesen Gedanken an den Rand der Paradoxie drängen.
Aber vielleicht hängt der Schlankheitswahn in weiblichen Kreisen auch ein wenig mit der Veränderung des Frauenbildes zusammen. Die Frau ist heute nicht mehr nur Hausfrau, sondern hat sehr viel mehr Aufgaben und Erwartungen zu erfüllen. Die perfekte Frau der westlichen Welt ist in allen Lebensbereichen, egal ob Mutter, Geschäftsfrau oder Ehefrau, jederzeit der Qual von kollektiven Normen ausgesetzt. In allen Lebensbereichen haben der Wettbewerb und das Geltungsstreben zugenommen. Im Privaten bedeutet das für viele Frauen dauerhafte Zwangsdiät, tägliches Sportprogramm und Kalorienzählen bis zur letzten Erbse.
Der Knick kommt mit einem Schlag
So viel zu den Grundvoraussetzungen. Wie es aber im Einzelnen zu einer krankhaften Magersucht kommt, hängt von sehr individuellen Auslösern ab. Jedoch sind die Hauptauslöser nur selten so offensichtlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Natürlich kann man aus einer anfänglich harmlosen Diät Schritt für Schritt in eine Magersucht rutschen und auch die absurde Wette mit einer Freundin, wer in einer gewissen Zeit mehr abnimmt, gilt als gängiger Auslöser für die schwere psychische Erkrankung. Jedoch ist die Magersucht auch bei einigen Patienten ein Zeichen für generelle Überregulierung. So scheint Jugendlichen, die viele Gebote und Regeln der Eltern erfüllen müssen, die Ernährung und damit die Magersucht als der kleine Teilbereich ihrer Lebenswelt, über den sie selbst bestimmten können und den sie unter Kontrolle haben.
Auf der anderen Seite birgt die Magersucht auch immer die Möglichkeit zur Ablenkung. Da das gesamte Denken nur vom Hunger bestimmt ist, werden andere Probleme schnell vergessen. Bei solchen Patienten muss natürlich zunächst die anfängliche Sorge in den Griff bekommen werden, bevor man die Magersucht auf lange Sicht heilen kann. Ein weiteres Motiv der Magersucht kann die selbstbestimmte psychische „Kastration“ darstellen. Durch die Unterernährung bleibt beim Magersüchtigen der Sexualtrieb sowie auch die Menstruation und Samenkonzentration auf niedrigem Niveau. Egal ob religiös oder aus Scham motiviert, ist diese psychische „Kastration“ nur eine kurzgedachte Strategie, die nicht langfristig praktikabel ist.
Also was tun?
Gegen die Magersucht anzukämpfen, setzt voraus, dass man die Schlacht annimmt. Zunächst einmal muss vielen Jugendlichen klar gemacht werden, dass sie ein ernsthaftes Problem haben, das auf Dauer ihr Leben zerstören wird. Erst wenn der Psychotherapeut während einer entsprechenden Behandlung der Magersucht in intensiven Gesprächen die Betroffene zur Mitarbeit motivieren kann, kann die Behandlung gelingen. Dies gilt auch für Freunde und Verwandte, die helfen wollen. Das exzessive Wiegen während der Zeit der Magersucht muss zunächst auch weitergeführt werden, da auch die Gewichtssteigerung protokoliert werden sollte. Nur so kann man den Erfolg später klar quantifizieren und mit ihm arbeiten. Im Zusammenhang damit steht immer ein vorab abgesprochener Stufenplan. Zumeist wird ein Vertrag von beiden Seiten (Betroffene wie Helfer) unterschrieben, welcher die Betroffene dazu zwingt, in einem gewissen Zeitraum ein vorab gesetztes Gewicht zu erreichen. Dieser Zwang ist allerdings in diesem Fall ein Segen für die Mädchen, da sie mit dem Vertrag eine Legitimation für das Essen und Zunehmen besitzen.
Auf der anderen Seite lässt sich das Selbstbild der Betroffenen am besten durch Foto- und Videomaterial aufarbeiten. Erst wenn der eigene Körper in seiner Schwäche von allen Seiten dargestellt angesehen werden kann, kommt es zu einer Neubewertung der eigenen Körpermaße. Essentiell im konkreten Kampf gegen die Magersucht bleibt das soziale Umfeld. Dabei muss sich jeder über seine persönliche Verantwortung bewusst werden. Die Freunde müssen häufig während der Zeit viel ertragen. Depressionen, Stimmungsschwankungen und Zwangsverhalten sind keine Eigenschaften, die man gerne an seinen Freunden entdeckt. Aber nur mit dem starken Zusammenhalt des sozialen Umfeldes kann der und die Betroffene die Magersucht überwinden, um wieder voll durchzustarten. Wir alle sind in der Lage Menschen vom Leben zu überzeugen, wir alle können helfen.
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