Die Medienberichte über Proteste, Gewalt und Hunger in Venezuela reißen nicht ab. Was ist in dem ehemals so reichen Land los und wie konnte es so weit kommen? Hintergrund.
Kannst du dir vorstellen, nur einmal die Woche einkaufen zu können? Mehr als sieben Stunden anzustehen, um am Ende mit zwei bis drei Produkten aus dem Supermarkt zu kommen, weil die Regale leer waren? Dein Geld zum Bezahlen nur noch zu wiegen, anstatt es zu zählen? An keinem Tag zu wissen, ob morgen Wasser aus der Leitung kommen wird? Was für Deutsche schwer vorstellbar ist und eher klingt wie aus einer anderen Zeit, ist für die meisten Venezolaner tägliche Realität. Die Menschen leiden seit Jahren unter einer schweren Wirtschaftskrise sowie einem sozialistisch ausgerichteten Regime, das primär am Machterhalt interessiert ist und diesen auch mit diktatorischen Mitteln sicherstellt. Doch jetzt scheinen die Venezolaner genug zu haben: Der neueste undemokratische Vorstoß Maduros‘ hat seit Ende März Zehntausende und am Wochenende vom 20. – 21. Mai sogar Hunderttausende auf die Straßen getrieben.
Aktuelle Protestwelle: Trotz Gewalt und Tod kein Ende in Sicht
Ende März hatte das oberste Gericht allen Parlamentariern ihre Immunität entzogen und dem Parlament seine Kompetenzen abgesprochen – diese übertrug es sich anschließend selber. Somit war die Gewaltenteilung in dem südamerikanischen Land nicht länger gegeben und eine Quasi-Diktatur installiert. Die internationale Gemeinschaft reagierte empört – die Entscheidung wurde daraufhin zurückgenommen. Auch wenn unklar ist, wer für das Vorgehen des Gerichts verantwortlich ist, vermutet die breite Öffentlichkeit Staatspräsident Nicolás Maduro dahinter. Denn Exekutive und Judikative sind in Venezuela seit Jahren eng miteinander verwoben. Maduro kündigte Anfang Mai an, eine neue Verfassung in Auftrag geben zu wollen – diese soll niemand aus dem Parlament oder der Opposition ausarbeiten dürfen, sondern parteiferne „arbeitende“ Menschen.
Seit diesen Geschehnissen, die als „Staatsstreich von oben“ verstanden werden, gehen die Menschen täglich auf die Straße und protestieren gegen das Regime. Sie fordern Neuwahlen und den Rücktritt Maduros. Allerdings verlaufen Demonstrationen in Venezuela nicht so friedlich und vergleichsweise ungefährlich wie in Deutschland: Demonstrierende werden oft mit Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern von Polizei und Militär angegriffen. Davon abgesehen kommt es zu willkürlichen Festnahmen und immer wieder wird auf Protestierende geschossen, zum Teil mit tödlichen Folgen. Obwohl die meisten Menschen friedlich marschieren, gibt es auch seitens der Demonstranten Gewalt: Sie reagieren mit Steinen, Molotow-Cocktails und körperlicher Gewalt auf die Schikanen des Regimes. Auch dieses Mal sind die Venezolaner mit solchen Angriffen konfrontiert. Aus diesen Gründen fürchten sich manche Menschen an den Kundgebungen teilzunehmen. „Ich und meine Frau, wir waren bisher noch bei keiner einzigen Demonstration. Es ist zu gefährlich, wir sind ja unbewaffnet“, erzählt Pablo Rodrigues (Name geändert) über Skype. Seinen Namen möchte er nicht veröffentlicht sehen, denn er hat Angst vor möglichen Folgen. Die Bilanz nach sechseinhalb Wochen Protest: Mehr als 2.000 Menschen wurden festgenommen, Hunderte verletzt, über 40 getötet. Nicht immer ist dabei klar, welche Seite für die Gewalt verantwortlich ist. Ein Ende der Demonstrationen aber ist nicht in Sicht.
Ein Land versinkt im Chaos: Hintergründe der Krise
Sucht man nach den Ursprüngen des aktuellen Chaos‘, muss man tief graben. Die Hauptverursacher sind die Wirtschaftskrise und das politische System, das Formen einer Diktatur angenommen hat. Entwickelt hat sich dieses System mit dem Amtsantritt des verstorbenen Expräsidenten Hugo Chávez, der den Sozialismus im Land etablierte. Nach seinem Tod kam Nicolás Maduro 2013 mit einer knappen Mehrheit an die Macht und führte sein Erbe fort. Bereits im Februar des darauffolgenden Jahres richteten sich Teile der Bevölkerung gegen ihn und demonstrierten wegen der hohen Inflation (64 Prozent), der verbreiteten Korruption und zunehmenden Hungers. Maduro ließ die Kundgebungen gewaltsam niederschlagen. 2015 wurde bei den Parlamentswahlen vier Abgeordneten ihre Posten abgesprochen, um eine absolute Mehrheit des Oppositionslagers zu verhindern. 2016 dann wurde das Parlament handlungsunfähig, weil seine Beschlüsse regelmäßig vom obersten Gerichtshof annulliert wurden. Gegen diese Unterdrückung versuchten Opposition und Regierungsgegner mit einem Abberufungs-Referendum gegen Maduro anzugehen. Die Wahlkommission verhinderte aber, dass es zu einer Volksabstimmung kam. Als letztes Mittel erklärte das Parlament Maduro im Januar dieses Jahres mithilfe eines Paragraphen für abgesetzt, da er sein Amt nicht kompetent ausübe. Der Beschluss hatte keinerlei Auswirkungen.
Diese schweren demokratischen Defizite sind aber nur ein Auswuchs des Problems. Ebenso, wenn nicht sogar noch härter, trifft die Menschen die Wirtschaftskrise, unter der Venezuela seit 2013 leidet. Obwohl das Land die größten Erdölvorkommen der Welt hat, verfügt es über zu geringe Staatseinnahmen. Verantwortlich dafür ist vor allem der Absturz des Öl-Preises, denn der Export von Erdöl machte in der Vergangenheit den Hauptteil der staatlichen Einkünfte aus. Weil Maduro versuchte, die wegfallenden Einnahmen mit der Notenpresse zu kompensieren, ist die Landeswährung „Bolívar“ nun so wenig wert, dass die Bürger für banale Produkte Unsummen zahlen müssen. Zum Teil zählen sie das Geld nicht mehr, sondern wiegen es nur noch. Die Inflation steigt jedes Jahr enorm, sodass Venezuela aktuell das Land mit der höchsten Rate der Welt ist: Laut Schätzungen des IWF wird das Land 2017 eine Hyperinflation von 720 Prozent erreichen und 2018 schwindelerregende 2.000 Prozent übersteigen. Das Fatalste aber: Venezuela muss viele Grundnahrungsmittel importieren, weil sie nicht im Land selbst vorhanden sind. Bisher wurden diese immer durch den Erlös des Erdölexports finanziert. Wegen der mangelnden Einnahmen aus dieser Quelle und da es die Regierung versäumt hat, in andere Wirtschaftszweige zu investieren, gibt es zu wenig Geld, um die notwendigen Güter zu beschaffen.
Kein Geld für Nahrungsmittel und Medikamente
Leere Supermarktregale und Plünderungen von Geschäften sind die Folge. Im Sommer 2016 berichtete der Tagesanzeiger von Schlangen vor den Supermärkten, die mehrere Hundert Meter lang waren und das mehrere Stunden bevor die Geschäfte überhaupt aufmachten. Die taz begleitete einen jungen Mann, der nach sieben Stunden in der Schlange aufgab und ohne Lebensmittel nach Hause ging. Pablo Rodrigues und seine Frau Mariella (Name geändert) müssen nicht Schlange stehen. „Wir haben beide gut bezahlte Jobs. Deshalb können wir auf dem Schwarzmarkt einkaufen gehen – da gibt es fast alle Produkte, die man braucht. Aber das ist großes Glück. Viele unserer Freunde und Bekannten müssen in die normalen Supermärkte. Seit die Lage so schlimm ist, werden sie viel öfter krank, denn sie können sich nicht mehr vernünftig ernähren.“ Es fehlen Grundnahrungsmittel wie Maismehl, Reis und Zucker, zwischendurch wurde das Mineralwasser rar und die meisten Medikamente sind Mangelware. Manchmal gibt es tagelang kein Wasser in den Leitungen.
Und der Präsident? Sagt für gewöhnlich, private Unternehmen würden einen Wirtschaftskrieg gegen ihn führen und Waren absichtlich zurückhalten. Während der neuesten Protestwelle ist Maduro nun dazu übergegangen, den USA und der Opposition einen Putschversuch gegen seine Regierung vorzuwerfen und sie für die katastrophale Situation im Land verantwortlich zu machen.
Quo vadis, Venezuela?
Bereits vor zwei Jahren sahen Experten das Land auf dem Tiefpunkt. 2017 ist die humanitäre, soziale und wirtschaftliche Lage noch schlimmer als damals. Pablo sieht das größte Problem aber in der politischen Situation: „Ich frage mich, ob Venezuela es schaffen wird zur Demokratie zurückzufinden.“ Die Frage, die sich in letzten Monaten für Länder wie die Türkei, Ungarn und Brasilien gestellt hat, die stellt sich auch für Venezuela. Ist das südamerikanische Land eines Tages in der Lage, zur demokratischen Ordnung zurückzukehren? Klar ist, dass die Demokratie in dem Land untergraben wird und sich ein autoritäres System installiert hat, das Bürger- und Menschenrechte verletzt und demokratische Vorgänge sabotiert. Die Watchdog-Organisation Foro Penal stellte für 2016 mehr als 2.000 willkürlichen Festnahmen fest. Oppositionspolitiker wurden unter fadenscheinigen Argumenten zu Haftstrafen verurteilt oder ihrer politischen Ämter enthoben. Wie die vergangenen Ereignisse zeigen, ist die Gewaltenteilung abgeschafft. Wie steht es um die Meinungsfreiheit? „Im Privaten können wir unsere Meinung noch sagen. In der Öffentlichkeit ist das aber anders. Vor allem Beamte und Mitarbeiter staatlicher Einrichtungen können das nicht tun“, berichtet Pablo. Mariella arbeitet im Ministerium für öffentliche Angelegenheiten und weiß genau, wovon ihr Mann spricht. „Dort darf man nichts gegen Maduro oder Chávez sagen, niemals. Mein Chef ist ein Offizier, die Situation ist schwierig für uns Mitarbeiter. Er verbietet es uns, in der Pause auf die Straße zu gehen und ist ein gefühlloser Mann.“ Das Militär ist ein weiteres Symbol dafür, dass sich das Land immer stärker in eine Diktatur verwandelt. Im Moment scheint es gut möglich, dass Venezuela zum Zustand einer Militärjunta – wie im 20. Jahrhundert – zurückkehrt. Mehr als zehn Ministerien werden von ehemaligen oder aktuellen Militärs geführt und noch vor wenigen Wochen bekundeten die Streitkräfte ihre Loyalität zum Präsidenten. Diese Gegebenheiten deuten nicht daraufhin, dass die Bevölkerung es aus eigener Kraft schaffen kann zur früheren Ordnung zurückzukehren.
Was ist mit der internationalen Staatengemeinschaft, die schon in andere Konflikte wie beispielsweise in den in Kolumbien eingegriffen hat? Bisher haben viele westliche Staaten Maduros‘ Vorgehen verurteilt und mit ihren Äußerungen unter anderem erreicht, dass das Gerichtsurteil vom März aufgehoben wurde. Der Mercosur, ein Wirtschaftsbündnis südamerikanischer Saaten, hat die Mitgliedschaft Venezuelas suspendiert. „Aber die Menschen erwarten mehr“, sagt Pablo. „Die internationale Gemeinschaft ist bisher zu schüchtern. Die Mehrheit der Bürger hier hofft, dass jemand aktiv interveniert, der mehr Macht hat als wir. Denn in diesem Land sind wir hilflos.“
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