Als Brückenstaat zwischen West und Ost war die Ukraine immer ein Spielball der Großmächte. Doch keineswegs liegen die Gründe für den aktuellen Konflikt einfachhin in den divergierenden Interessen des Westens und Russlands. Möglich wurde er, weil das Selbstverständnis der Ukrainer voller Gegensätze ist – Gegensätze, die sich weder politisch noch militärisch aus der Welt schaffen lassen. Von Florian Ossadnik.
Die Geopolitiken Russlands und der westlichen Welt können im zweitgrößten Flächenstaat Europas so direkt aufeinandertreffen, weil die post-sowjetische Ukraine eine zutiefst problematische, widerspruchvolle kulturelle Identität hat – oder vielmehr zwei Identitäten, sagen wir vereinfachend eine »ukrainisch-westliche« und eine »russophile« (zu Sowjetzeiten wurde diese kulturelle Dichotomie unterdrückt). Natürlich existieren handfeste strategisch-politische und auch ökonomische Gründe dafür, dass der Westen und Moskau um die Ukraine ringen. Doch der Anknüpfungspunkt für beide Seiten liegt in den Herzen und Köpfen der Ukrainer und ist kultureller Natur: Es ist das jeweilige kulturelle Selbstbild, das die einen nach Westen, die anderen nach Russland blicken lässt.
Die eine Identität – vor allem in den westlichen Landesteilen und in der Zentralukraine beheimatet – sieht die Ukraine als Teil der westlichen Hemisphäre und ist ein Stück weit mit dem kulturellen Selbstbild Polens oder des heutigen Bulgariens vergleichbar: slawisch und national orientiert, zugleich aber nach Westen blickend, westlich fühlend. Die andere ist russisch orientiert und empfindet panslawisch: sie findet sich im südlichen und vor allem östlichen Teil des Landes (und keineswegs nur bei ethnischen Russen!), seltener – aber auch – bei jungen Menschen dort, insbesondere aber in den Altersgruppen, die ganz oder überwiegend zu Sowjetzeiten politisch sozialisiert wurden (wobei diese Identität nicht zwangsläufig mit »Sowjetnostalgie« einhergeht). Diese beiden kulturellen Selbstverständnisse sind zumeist – aber doch nicht immer – an die Sprache geknüpft. So gibt es auch Ukrainer, die Russisch bevorzugen, aber eine enge Anbindung ihres Landes an den Westen unterstützen, und umgekehrt solche, die sich trotz ihrer Angabe des Ukrainischen als Muttersprache Russland nahe fühlen.
Die erste Identität konzipiert die Ukraine als eigenständige slawische, (ost-)europäische Kultur, die nun endlich ihren Platz in Europa einnehmen sollte, so wie es etwa Polen, Bulgarien oder die Slowakei bereits getan haben. Das zweite, »russophile« und panslawische Selbstbild kennt keine elementare Unterscheidung zwischen Ukrainern und Russen. Beide werden hier vor allem als Angehörige eines überstaatlichen Kultur- und Sprachraums gesehen, der neben Russland und die Ukraine auch Weißrussland umfasst (es gibt in dieser Vorstellung demnach auch keine wirkliche ethnische Abgrenzung zu Weißrussen).
Die Identität der West- und Zentralukraine folgt ihrer Logik und sieht im Westen den Helfer, der auf dem Weg zu einem prosperierenden ukrainischen Nationalstaat innerhalb der europäischen bzw. westlichen Kultur- und Wirtschaftsgemeinschaft beisteht (wobei man noch nicht sieht, dass in Europa die Nationalstaaten mehr und mehr an Bedeutung verlieren). Die russlandorientierte Identität fühlt sich wenig zu Mittelost-, Mittel- und Westeuropa hingezogen. Sie begreift das »Ukrainische« aus den historischen, kulturellen, sprachlichen und politischen Verbindungen mit Russland heraus, die man in der »Kiewer Rus« wurzeln sieht und die sich aus der weitreichenden Zugehörigkeit zum Zarenreich und zur Sowjetunion ergeben. Der Süden und Osten der heutigen Ukraine, Träger dieser zweiten Identität, wurde erst im 18. Jahrhundert mit Ukrainern und Russen besiedelt – zu einer Zeit, da eine ethnische Unterscheidung zwischen beiden nicht getroffen wurde. Diese Nicht-Unterscheidung setzt sich bis heute insbesondere in den drei östlichen Oblasten Donezk, Luhansk und Charkow sowie auf der von Russland annektierten Krim fort.
Russland – Bruder und Feind
So kann die vor allem im Osten des Landes verwurzelte, zweite ukrainische Identität den großen Nachbarn Russland als den »natürlichen Verbündeten« begreifen, als den »Bruder«, mit dem man Kultur und Geschichte teilt und von dem man sich nicht künstlich abtrennen lassen will; die erste Identität hingegen Russland als den Feind sehen, den »bösen Bruder«, der die Eigenständigkeit der ukrainischen Kultur negiert und die Ukraine nicht in das europäische Haus einziehen lassen will.
Die beiden ukrainischen Identitäten haben sich sicherlich unter einem gewichtigen Anteil an Zwang, Repression und Manipulation herausgebildet. Nicht nur wurde die ukrainische Sprache und Nationalbewegung im zaristischen Russland unterdrückt, eine »kleinrussische« Identität der Ukraine als Teil einer allrussischen Identität propagiert; umgekehrt wurde die ukrainische Nationalbewegung auch von Mächten wie Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich auf manipulative Weise „gefördert“, um den Gegenspieler Russland innerlich aufzusprengen. Auch wurde die panslawische, russophile Bewegung im habsburgischen Teil der Westukraine verboten und verfolgt. Die Bolschewiki nutzten die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukrainer zunächst ebenso wie zuvor die außenpolitischen Gegner Russlands für ihre Zwecke, bis dann Stalin ukrainische Kulturäußerungen mit massiven Unterdrückungsmaßnahmen bedachte.
Chruschtschow ließ die ukrainische Sprache und Kultur in der Ukrainischen Sowjetrepublik hingegen gleichberechtigt neben das Russische stellen – sein Nachfolger Breschnew setzte diesem Kurs dann wieder ein Ende. Auf der anderen Seite hat die nationale/nationalistische ukrainische Bewegung in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Krieges, hier vor allem in Gestalt der »Ukrainischen Aufständischen Armee«, auch ihrerseits vor Gewalt und Repression nicht zurückgeschreckt. Trotzdem: Geschichtlich gewachsene kulturelle Identitäten, auch wenn sie zu einem guten Teil durch Macht- oder gar Gewaltmittel zustande gekommen sind, können in der Regel nicht nach »Richtig« oder »Falsch« bemessen werden. Und vor allem: Sie dürfen nicht durch politische Zwangsmaßnahmen oder gar kriegerische Mittel, sprich durch ebensolche Gewaltmittel, bekämpft werden. Dies muss für beide ukrainische Identitäten gelten.
Hier soll freilich nicht behauptet werden, Ziel der Kiewer Regierung sei eine gewaltsame Ukrainisierung des Ostteils des Landes, also eine Bekämpfung bzw. Auslöschung der zweiten, russlandorientierten Identität der Ukraine mit den Mitteln des Krieges. Aber: es gibt Einflüsse auf diese Regierung, die genau dies fordern; und es gibt Gruppen, die für die ukrainische Regierung im Donbass aus der Motivation heraus kämpfen, eine homogene »ukrainisch-nationale« Kultur im gesamten Land durchzusetzen: so zum Beispiel das rechtsextreme Freiwilligen-Bataillon »Asow« und andere weltanschaulich zutiefst zweifelhafte Kampfverbände (denen übrigens von Amnesty International Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, ebenso wie den Separatisten und der regulären ukrainischen Armee).
Politik darf kulturelle Realität nicht ignorieren
Wer das Land nicht zerbrechen will, muss ein Nebeneinander der beiden kulturellen Selbstbilder und einen gewissen politischen Ausgleich zwischen ihnen ermöglichen. Tatsächlich kann man sagen, dass die politischen Führungen des Landes in der Vergangenheit diesen Grundsatz zumindest nie gänzlich verworfen haben. Selbst für die konsequent westlich orientierte Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos gilt dies: man denke etwa an dessen Zusicherung im damaligen Streit um den NATO-Beitritt, dem westlichen Verteidigungsbündnis nur dann beizutreten, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung sich in einem Referendum dafür aussprechen sollte. Auch der korrupte Ex-Präsident Viktor Janukowytsch folgte diesem Prinzip des Nebeneinanders, wenngleich im Rahmen einer Politik des unseriösen »Muddling Through«.
Für die jetzige Regierung aber scheint die zweite Identität, jene die den ukrainischen Osten prägt oder zumindest stark mitprägt, schlichtweg nicht zu existieren. Auch hat sie bisher nicht nach dem politischen Willen der dort lebenden Menschen gefragt. Es muss aber dringend etwas für die politische Koexistenz der beiden kulturellen Identitäten getan werden. Das nun schon wieder gefährdete Abkommen von Minsk leitet dazu hin: es sieht direkte Verhandlungen mit den Vertretern der ostukrainischen Aufständischen über eine Verfassungsreform und Gespräche über Wahlen in den abtrünnigen Gebieten vor. Hier sollen nicht die Separatisten verteidigt werden, aber Regierung und Parlament in Kiew haben bisher alles in allem eine gefährlich desintegrative, die zwiegespaltene »kulturelle Realität« der Ukraine ignorierende Politik betrieben.
Thomas Brand
Eine sehr differenzierte Einschätzung. Wenn es zu einer Friedenslösung kommen sollte, so werden die “nicht westlich ” eingestellten Ukrainer im Süden und Osten mit einbezogen werden müssen.