Das Land, in dem der arabische Frühling begann, ist die Heimat des Berliner Attentäters Anis Amri und gleichzeitig beliebtes Urlaubsziel vieler Deutscher. Die Medien beschreiben Tunesien momentan mehr im Hinblick auf Auffanglager, Terror und als Teil der instabilen arabischen Weltregion. “Ist der jungen Demokratie mit diesen Zuschreibungen genüge getan?”, fragte ich mich und versuchte das Land aus der Perspektive einer Tunesierin zu betrachten.
Ein friedliches Tunesien: Wunschtraum oder Realität?
Zohra (Anmerkung: Name geändert), meine tunesische Bekannte, beschreibt Tunesien als junge, hoffnungsvolle Demokratie, die mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Ich muss zugeben, auch ich bin skeptisch, inwieweit diese hoffnungsvolle Demokratie Wunschtraum oder Realität ist. Denn als der arabische Frühling begann, hatte man auch in die Türkei große Hoffnungen als ein Vorbild für den Nahen Osten gesetzt. Es tut mir beinahe leid, so kritisch gegenüber solchen (ehemaligen) Aufbruchländern eingestellt zu sein, als ich Zohra da mit strahlenden Augen vor mir sitzen habe, die mir stolz von ihrem Land erzählt.
Bevor ich aber der Frage nach der Situation im Land nachgehe, interessiert mich, wie sie Deutschland im Vergleich zu ihrer Heimat wahrnimmt. Zohra nennt innovation, persistance and leadership als Schlagwörter. Interessant, welchen Unterschied es doch macht, dass wir das Interview auf Englisch führen. Leadership erhält damit einen ganz anderen Beiklang als das in Deutschland noch immer stiefmütterlich behandelte Wort Führungsrolle.
Zohra selbst kam durch ihren Beruf nach Deutschland. Als Informatikerin fand sie hier vielfältige Möglichkeiten, sowohl auf dem akademischen als auf dem praktischen Level. Gerade ersteres sei in Tunesien rar, denn der dortigen Forschung stünden nur geringe Mittel zur Verfügung. Deutschland hingegen gelte in ihrer Heimat als führend im Bereich der Technologie und sei daher für viele Arbeitnehmer/innen ein attraktives Zielland. Beispielsweise würden nirgendwo sonst in Europa so viele Patente ausgestellt wie hier in Deutschland. Zudem ermögliche es ihr die Arbeit in Deutschland mit Kollegen aus der ganzen Welt zusammenzuarbeiten, was so in Tunesien nicht möglich sei.
Deutsche Medienberichte aus anderer Perspektive
Was mich besonders interessiert, sind die zu Anfang des Jahres diskutierten Auffanglager und die Einstellung der Tunesier/innen hinsichtlich der Debatte um den Nahen und Mittleren Osten als Keimzelle von Terror. Zwar wiegelte Kanzlerin Merkel bei einem Besuch ihres tunesischen Amtskollegen Chahed in Berlin im Februar diesen Jahres jegliche Pläne dafür ab und meinte, Auffanglager wären nie Teil ihres Wortschatzes gewesen, doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Der Terroranschlag in Berlin sei bei ihrem Besuch zu Weihnachten in Tunesien Thema vieler Gespräche gewesen, sagt Zohra. Es sei verständlich, dass die deutsche Politik nach Lösungen suche.
Doch ihr sei wichtig zu betonen, wie beschämt ihre Landsleute gewesen seien, als die Medien vom Attentäter in Berlin als „Sohn Tunesiens“ sprachen. Dieser sei kein Sohn des Landes gewesen, sondern ein radikalisierter IS-Kämpfer, der seine Staatsbürgerschaft gegen eine fanatische Ideologie getauscht habe. Ihre Ausführungen machen bewusst, wie wichtig es ist, die eigene Perspektive einmal zu verlassen und Verständnis für das zu entwickeln, was mediale Spekulationen und politische Kalkulationen über das Risiko von Terror für die jeweiligen Bevölkerungen bedeuten. Terroranschläge sind Teil einer gewalttätigen Ideologie. Einzeltaten auf ein ganzes Land zu projizieren, bedeutet, durch unbelegte Mutmaßungen eine neue Spirale von Hass und Gewalt loszutreten.
Tunesien heute
Tunesien sei wirtschaftlich schwach und auch die Demokratie brauche noch Zeit zu wachsen. Nach jahrzehntelanger Diktatur beginnt sich dort langsam eine engagierte Zivilgesellschaft herauszubilden. Bleibt die Frage, ob der Trugschluss, Terror und Wirtschaftsflüchtlinge ließen sich durch Auffanglager aufhalten, es wert ist ein sich im Aufbau befindendes Land erneuter Instabilität auszusetzen?
Tunesiens Wirtschaft basiert vorwiegend auf Landwirtschaft, Bergbau mit Phosphatabbau und Tourismus. Einer der Faktoren, die schließlich zum Arabischen Frühling führten, war auch die hohe Arbeitslosigkeit, ein Problem, das bis heute nicht gelöst ist. Zudem zwangen 2015 die Terroranschläge in Bardo und Sousse sowie nun der Anschlag in Berlin Hunderte von Hotels in die Insolvenz und nahmen unzähligen Familien ihre Lebensgrundlage. Zudem zogen sich ausländische Investoren aus Tunesien zurück, während der Staat gleichzeitig daran scheitert, gerade für die junge Bevölkerung Jobs zu schaffen.
Statt Auffanglagern in Tunesien: Was die deutsche Politik nun anstrebt
Zwar ist die Debatte um Auffanglager mittlerweile vom Tisch, doch weiterhin will Deutschland mit Tunesien zusammenarbeiten, um die Lage in Lybien zu stabilisieren. Fraglich, wie Kanzlerin Merkel sich das vorstellt, denn dazu braucht es unter anderem Sicherheitskräfte und Geheimdienste. Der tunesische Sicherheitsdienst beispielsweise jedoch hat kaum ausreichende Mittel, wie die jüngste Untersuchung über die Zahl von ISIS-Kämpfern ergab. Die Radikalisierung der Bevölkerung rührt nicht aus einem Hang der Bevölkerung zu Terror, sondern weil die erste Regierung nach dem Arabischen Frühling sehr lax mit Sicherheitsmaßnahmen umging. Die konservative Partei Chaheds hatte unter anderem Vermutungen von Trainingslager für Terroristen in unzugänglichen Bergregionen als Sportcamps abgetan.
Gleichzeitig hatte der Staat keine Einwirkung mehr darauf, dass sich eine steigende Zahl junger Tunesier in der Türkei als ISIS-Kämpfer radikalisierte und dort auch Universitätsabschlüsse erwarb, um die Identität zu tarnen. Auch Versammlungen an öffentlichen Orten wurden in der Ära der ersten Regierung abgehalten, wodurch es dem IS ein leichtes war seine radikale Ideologie zu verbreiten. Diese lasche Regierungsführung lässt keinen Raum für Entschuldigungen. Umso bedeutender ist daher, wo Tunesien heute steht.
Innerhalb weniger Jahre nach der Revolution schaffte es das Land eine freie Presse herauszubilden, die auch Politiker kritisiert. Zudem gibt es freie Wahlen, die nicht wie zuvor ein Witz hinsichtlich ihrer Richtigkeit gewesen seien, wie Zohra mir erklärt. Es ist erstaunlich, dass ein Land, das mehr als 50 Jahre unter Herrschaft einer Diktatur war, für die ersten Wahlen 127 Parteien herausbilden konnte. Von diesen setzte sich bis heute ein gutes Dutzend durch, das noch aktiv ist.
Tunesien darf nicht zum Instrument deutscher Interessen werden
So wie man in Deutschland die Entwicklung des Landes kritisch beäugt, so kritisierten laut Zohra auch einige Tunesier die ausbleibenden Erfolge des Arabischen Frühlings. Denn was habe man schon groß erreicht außer der neuen Pressefreiheit? Angesichts der Arbeitslosigkeit und Brisanz der wirtschaftlichen Lage mehren sich die Kritiker im Land. So schnell auch der Sturz der Herrscherfamilie Ben Alis zustande kam, so lange wird es wohl dauern, bis das Land wirklich stabil ist. Die durchaus angebrachten Forderungen müssen in Relation zu den bereits erreichten Erfolgen gesetzt werden. Allein schon, dass sich nicht mehr allein die Herrscherfamilie Ben Alis am Vermögen und allen stehlbaren Gütern des Landes bedient, die Korruption eingedämmt ist und kritische Stimme nicht mehr gewaltsam mundtot gemacht werden, ist nicht selbstverständlich, wenn man sich Tunesiens Nachbarn ansieht. Statt der jahrzehntelangen Stagnation darf sich dieses Land wieder Hoffnung auf eine Zukunft machen.
Diese Hoffnung sollte die deutsche Politik unterstützen, anstatt Tunesien nur als Schutzschild und Partner zur Stabilisierung anderer Länder zu sehen. Anstatt Tunesien nur zu nutzen, braucht es Unterstützung durch wirtschaftliche Kooperation. Dies unterstützt die dortige Bevölkerung und packt den Terrorismus an seiner Wurzel. Denn eine stabile Lebensgrundlage beraubt der fanatischen Ideologie des IS eine ihrer wichtigsten Argumentationsgrundlagen.
Mein Fazit dieses Gesprächs lautet damit, dass Tunesien durchaus berechtigt ist, als hoffnungsvolle Demokratie betitelt zu werden und daher mehr Respekt verdient, gleich ob es die mediale Berichterstattung betrifft oder die politische Zusammenarbeit. Es kann nicht sein, dass Deutschland nur schnelle Rückführungen nach Tunesien durchsetzen will und es zur Stabilisierung Libyens braucht. Tunesiens Demokratie sollte gefördert werden und kein reines Instrument unserer Interessen darstellen.
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