Ein Vortrag über das Wirken des Arbeiterchors Berliner Friedrichshain-Kreuzberg-Museum wird zu einer lebendigen Geschichtsstunde mit Zeitzeugenberichten. Dr. Ela Gezen ist aus den USA nach Deutschland gekommen, um über ihre Forschungen zu berichten und lernt an diesem Abend selbst einiges dazu.
Es ist ein äußerst ungünstiges Datum, an dem im FHXB-Museum am Kottbusser Tor in Berlin ein Vortrag über die Geschichte des Türkischen Arbeiterchors stattfindet: Deutschland spielt gegen Frankreich um den Einzug ins EM-Finale. Trotzdem soll heute Abend die Literaturwissenschaftlerin Dr. Ela Gezen von ihren Forschungen über den Chor und dessen Einfluss auf die westdeutsche Arbeiterbewegung von 1973-1983 erzählen.
Die Deutsch-Türkin lehrt an der Massachusetts University of Amherst in den USA. Bei der Recherche für ihre Dissertation sei sie über das Thema gestolpert. Sie selbst kenne diese Zeit nur aus Erzählungen und Archiven, daher bezeichne sie sich nicht als Expertin sondern vielmehr als Interessierte. Der Veranstaltungsraum des Museums ist heute nur dünn besucht, dafür sind einige Zeitzeugen anwesend, die die Ausführungen ihrer Forschung mit eigenen Erfahrungen ergänzen.
Die Gründungsphase des Arbeiterchores ist charakterisiert durch den Gastarbeiterstopp, das Wirtschaftstief und die hohe Arbeitslosigkeit – das Einwanderungsproblem wird zum Türkenproblem gemacht. Zu dieser Stimmung passt die Spiegel-Schlagzeile aus dem Jahr 1973: „Die Türken kommen – rette sich wer kann!“, die Dr. Gezen an dieser Stelle anführt. Ihr ginge es darum, den deutsch-türkischen Austausch als wechselseitigen Einfluss beider Kulturen darzustellen. Sie wendet sich klar gegen die in den siebziger Jahren vorhandene Stigmatisierung der “türkischen Problemgesellschaft“ und will dem die damaligen Künstler entgegensetzen.
Es ist der erste türkische Arbeiterchor, der außerhalb der Türkei gegründet wird, und gelangt unter seinem Dirigenten Tahsin İncirci große überregionale Bekanntheit. İncirci kommt im Jahr 1962 in die Bundesrepublik, um Violine und Komposition zu studieren. Nachdem er in der Türkei seinen Militärdienst abgeleistet hat, geht er 1973 erneut nach Westberlin und nimmt sich dem kurz zuvor gegründeten türkischen Arbeiterchor an. Dieser folgt dem Vorbild der deutschen Arbeiterchöre, führt allerdings einige Neuerungen ein; so wird der eigentliche Solo-Gesang der Männer vom ganzen Chor gesungen.
Musik macht Politik
Schnell tritt der Chor auf politischen Veranstaltungen auf; auch erfolgen Kooperationen mit anderen deutschen Chören wie zum Beispiel dem Essener Brechtchor. Im Jahr 1974 erscheint die erste Langspielplatte des Arbeiterchors; sie trägt den Titel „Arbeiterlieder und -märsche“. Dabei werden die ursprünglich deutschen Texte von türkischen Mitgliedern übersetzt. Vorwiegend wird das klassische Instrumentarium der Arbeiterbewegung verwendet. Die Lieder des Chores werden auf Gewerkschaftsveranstaltungen gesungen und finden großen Anklang in der Arbeiterbewegung. In der Türkei verboten, sind sie trotzdem auf dem dortigen Schwarzmarkt erhältlich. Eine Frau aus dem Publikum meldet sich zu Wort, sie sei in den siebziger Jahren in der Metallbranche beschäftigt gewesen – dort seien bei Protesten immer die Lieder des Arbeiterchors gesungen worden.
In den Folgejahren vertont der Chor türkische Gedichte und Exilliteratur mit politischem Hintergrund, Volkslieder und Märsche sowie Eigenkreationen. Die Varietät des Repertoires zeigen die Tonbeispiele, die den Vortrag untermalen: Von arabesken Klängen, die die Nostalgie und Sehsucht der Arbeiter ausdrücken, bis hin zu den Märschen, die für ihre Entschlossenheit in den politischen Überzeugungen stehen. Ela Gezen sieht die Arbeit des Chores als Beitrag zur Aufrechterhaltung der Arbeiterbewegung in Deutschland. Sie will den Fokus nicht nur auf den türkischen Einfluss legen, sondern beschreibt das Wirken des Chores als „Arbeitersolidarität über die ethischen und nationalen Grenzen hinaus“. Denn auch heute hat das Erbe des Chores politische Symbolwirkung: Als sie im Sommer 2013 in Berlin gewesen sei habe sie die Interpretation des Solidaritätslieds, das aus dem Proletarierfilm „Kuhle Wampe“ in den Zwanzigern bekannt geworden ist, bei einer Demonstration gegen die Unterdrückung der Gezi-Proteste in der Türkei gehört.
Den türkischen Arbeiterchor Westberlins versteht sie als Synthese der deutschen und türkischen Kultur. Der türkische Arbeiter sei als „handelndes Subjekt gegen Diskriminierung und Ausgrenzung“ aufgetreten und stelle so einen Katalysator der Arbeiterbewegung dar. Ein ehemaliges Chormitglied berichtet: „Wir fanden uns wieder in den Liedern und Inhalten!“
Grenzen sprengen – Wege ebnen
„Die ethnischen oder religiösen Konflikte waren immer sekundär, die gemeinsamen Interessen standen im Vordergrund“, trägt ein anderes früheres Mitglied zu dem Vortrag bei. Trotzdem bricht der Chor im Jahr 1983 auseinander als die politischen Interessen, wie der Kampf um die Arbeiterrechte, abgeklungen waren. Heute existieren nur wenig Forschungen über dessen Bestehen, Dokumente aus der Zeit sind fast nicht zu finden und in den Archiven schwer erhältlich.
Die damaligen Regionalzeitungen berichten nicht über das Engagement des Chores: Die Bundesrepublik verstand sich damals als „Speerspitze im Kampf gegen den Sozialismus“, wie eine Zeitzeugin aus dem Publikum die Atmosphäre beschreibt, und verdrängt jegliche linksgerichtete politische Aktionen aus der öffentlichen Wahrnehmung. Trotzdem ist das Erbe des türkischen Arbeiterchors Westberlin der deutsch-türkische Dialog und die interkulturelle Verständigung. Dieses Wirken sollte gerade heute als Beispiel für gelungene Völkerverständigung und die Vorteile von kulturellem Austausch stehen.
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