Deutschland darf sich wohl mit Recht als tolerantes Land bezeichnen. Wir nehmen viele Menschen anderer Kulturen bei uns auf und reichen ihnen die Hand. Wir haben Gesetze, die gleiche Rechte versprechen, egal, aus welcher Gesellschaftsklasse jemand kommt, welche Hautfarbe oder sexuelle Orientierung er hat. Aber inwieweit sind wir im Einzelnen tolerant? Was genau bedeutet Toleranz? Wo sind ihre Wurzeln in unseren Köpfen?
Toleranz. Das Problem mit ihr ist, dass sie sich weder mit Kontrolle noch mit Versicherung vereinbaren lässt. Sie stromert lieber mit der Freiheit umher. Sie verlangt Passivität und Loslassen und das ist so viel schwieriger als Festhalten und aktives Diktieren. Toleranz verlangt, dass wir uns nach allen Seiten umschauen, ohne das Bedürfnis zu verspüren, unsere eigene Wahrheit anderen auferlegen zu müssen. Dass wir bei uns selbst bleiben, ohne in Ignoranz abzutauchen. Sie erfordert eine Auseinandersetzung mit uns selbst und dem eigenen Leben und die Einsicht, dass jeder das Recht auf seine eigene Wahrheit, seine persönlichen Prioritäten und Fehler hat.
Die intolerante Verurteilung ist so viel umgänglicher. Nicht nur erlaubt diese es einem, sich an den eigenen Ansichten festzukrallen, sondern auch, sie schön zu reden und zu verteidigen. Sie poliert somit auch noch das Selbstwertgefühl: Denn was bestärkt mehr im eigenen Richtigliegen als der Fingerzeig auf die Fehler eines anderen? Hach, es ist so einfach. Aber zugleich so bitter und zerstörerisch.
Wo beginnt Toleranz?
In Politik und Weltgeschehen ist Toleranz ein allgegenwärtiges Thema. Der Begriff zieht Assoziationen mit Streitpunkten wie Rassismus, Diskriminierung und Glaubensfreiheit mit sich. Aber er begegnet uns auch ständig in kleinen Alltagssituationen. Im Grunde fängt Toleranz schon bei der Erkenntnis an, dass andere Menschen vom eigenen Geschmack abweichende Vorlieben und Interessen, sowie für einen selbst unverständliche Gefühle haben. Sie führt dann weiter zum anschließenden Geltenlassen und Respektieren all dieser Verschiedenheit. Diese grundlegende Ebene der Toleranz ist ebenfalls ungeheuer wichtig für unser Zusammenleben in einer Gemeinschaft und das Wohl jedes Einzelnen. Einander ganzheitlich anzusehen und zu akzeptieren, macht uns stärker und zufriedener. Der Haken ist, dass es dafür schon eine gewisse Portion Selbstbewusstsein und Mut braucht.
Die Idealvorstellungen, die uns die Medien und die Gesellschaft auferlegen, helfen natürlich nicht. Unter anderem das Bild von Schönheit, das überall verbreitet wird, verunsichert zumindest einen Großteil der weiblichen Bevölkerung. So oberflächlich es auch klingt, der Wunsch danach, für schön befunden zu werden, ist es ganz und gar nicht. Er kommt aus dem inneren Bedürfnis, angesehen und in sich selbst bestärkt zu werden. Durch das so perfekte und konstruierte, dabei aber unrealistische und vor allem oberflächliche Schönheitsbild wird uns allerdings vermittelt, wir seien nicht gut genug. Wir geraten in einen Strudel der Unsicherheiten, aus dessen Tiefen es sich schlecht unsere Mitmenschen sehen und bestärken lässt. Den Schaden, den dieses Schönheitsideal, das einer Wegretusche der Individualität gleichkommt, anrichtet, sehen wir in all den Mädchen, die an Essstörungen leiden, an all den Frauen, die sich im Bikini nicht an den Strand trauen, in dem Fitnesswahn und den unendlichen Diäten, die durch das Internet und die Frauenzeitschriften kursieren. Es wird Zeit, dass wir Schönheit neu definieren: nämlich als Echtheit des Lebens. Gefühle, welcher Natur auch immer, Narben, die Art, wie wir uns bewegen – all das ist schön, weil es unser Leben erzählt.
Das Streben nach leeren und unrealistischen Idealen, die unsere Gesellschaft aufgestellt hat, ist zum Scheitern verurteilt. Der Wahn, sich selbst perfektionieren zu müssen, Erwartungen erfüllen und übertreffen zu wollen und erfolgreich zu sein, in allem, was man tut, ist höchst toxisch. Es führt nur dazu, dass wir mehr als mit der Welt um uns herum mit uns selbst und der eigenen Optimierung beschäftigt sind. Es führt zu Ignoranz gegenüber allem Anderen und einer Egozentrik, die sicherlich gar nicht beabsichtigt ist.
Warum Toleranz eine erstrebenswerte Eigenschaft ist
Der Weg aus diesem Irrgarten findet sich in der Toleranz. Zunächst uns selbst gegenüber in Form von Akzeptanz dessen, was wir als unsere Schwächen und Fehler empfinden und der Tatsache, dass wir unsere eigene Geschwindigkeit haben, Dinge zu lernen oder zu tun. Von dieser Position aus fällt dann auch der Blick über den Tellerrand unserer eigenen Probleme und Selbstzweifel deutlich leichter. Wir können uns mehr unseren Mitmenschen und ihren Geschichten zuwenden, sie in ihrem ganzen Wesen betrachten, von ihnen lernen und sie in sich bestärken.
Toleranz bietet uns die Chance, die Pluralität der Welt zu erfassen und daran zu wachsen. Sie lässt uns selbstbewusster werden, weil wir uns bewusst unseren Weg gesucht haben in einem Dschungel von Möglichkeiten. Sie hält uns immer wieder unsere Realität vor Augen und lässt uns die eigenen Wahrheiten und Prinzipien in Frage stellen. Sie kann uns dazu motivieren, uns auf etwas Neues einzulassen und etwas in dem so gewohnten Lebensrhythmus zu verändern. Und ja, das kann beängstigend sein. Aber je mehr wir uns Andersartigkeit öffnen und je mehr wir akzeptieren, was wir nicht verstehen, desto mehr können wir eigene Andersartigkeit von gesellschaftlichen Idealen akzeptieren und uns selbst annehmen.
Und das Schöne ist: Wie bei der Liebe gibt es in der Toleranz keinen Maßstab. Wir können immer weiter daran arbeiten, weniger zu urteilen, mehr wahrzunehmen und Abweichungen von eigenen Vorstellungen schätzen zu lernen. Und dabei immer wieder über uns selbst hinauswachsen.
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