Die bevorstehende Bundestagswahl gibt Anlass, sich die Wahlprogramme der verschiedenen Parteien einmal genauer anzuschauen. Nur selten stimmen wir aber dabei allen Punkten zu. Dennoch können wir uns nur für eine Partei entscheiden und müssen somit ihr Gesamtpaket akzeptieren. Was also, wenn man nun statt Parteien nach Themen wählen könnte?
Parteimitgliedschaft in Deutschland
Deutschland ist eine repräsentative Demokratie mit pluralistischem Parteiensystem. Wir Bürger/innen wählen demnach politische Repräsentanten, die unsere Rechte und Interessen im Parlament vertreten sollen. Zudem können wir uns auch selbst politisch engagieren, indem wir aktive Parteimitlieder werden.
Nach dem Ende der nationalsozialistischen Einparteiendiktatur begann rasch der Aufbau von Gemeinden und Ländern. Dies ermöglichte Landtags- und Parlamentswahlen, wozu es politische Parteien brauchte. Dadurch stieg die Mitgliederzahl der Parteien zwischen 1945 und 1948 stark an, sank jedoch bis zu den 1960er Jahren, wo sie dann wieder anwuchs.
Seit der 1980er Jahre verlieren die großen Parteien wie SPD und CDU jedoch kontinuierlich an Mitgliedern. Dies kann man laut Steffen Schmitt (Bundeszentrale für politische Bildung) sowohl der „Auflösung traditioneller Gesellschaftsstrukturen“ und damit der „Auflösung traditioneller Parteibindungen“ als auch dem gesellschaftlichen Wandel zu „postmaterialistischen Werten“ und Säkularisierung zuschreiben.
Auf dem absteigenden Ast
Die großen Parteien verlieren in diesem Prozess zunehmend die Fähigkeit, die Interessen vieler Bürger/innen adäquat zu repräsentieren, weshalb viele Menschen immer weniger dazu bereit sind sich langfristig an eine Partei zu binden. Dies spiegelt sich auch im Wählerschwund wieder. Das stellt nicht nur ein Problem für die Leistungsfähigkeit der Parteien selbst dar, sondern würde längerfristig auch die Legitimität der parteilichen Repräsentation von Bürgerinteressen infragestellen. Wenn sich Bürger/innen und politische Parteien immer mehr voneinander entfremden, würde die ursprüngliche Funktion der Parteien stark eingeschränkt.
Die Deutschen sind aber nicht unbedingt unpolitisch geworden, sondern finden alternative Formen, ihren politischen Meinungen Ausdruck zu verleihen. Diese Artikulationsformen sind weniger organisations- und dafür mehr themenbezogen. So finden viele Menschen bei Organisationen Anklang und werden dort aktiv, die sich für ein bestimmtes Thema stark machen. Das Bundestagswahlrecht wurde zuletzt 1956 grundlegend geändert. Wäre es daher nicht an der Zeit, das Wahlsystem den gesellschaftlichen Veränderungen und Vorstellungen anzupassen?
Jeder macht das, was er am besten kann
Wählen nach Themen bietet eine Alternative zum Parteienwählen. Statt sich für das Gesamtpaket einer Partei entscheiden zu müssen, würde man für verschiedene Themen verschiedene Parteien wählen. Dann stünden diese Themen auch viel mehr im Fokus. Das ursprüngliche und oft ineffiziente System bestehend aus Koalitionen, Opposition, etc. würde durch kleinere themenbezogene Kammern ersetzt. Dort müssten Politiker viel enger miteinander arbeiten und könnten sich so besser auf ihre Kompetenzbereiche konzentrieren. So würden Themen in Expertengruppen behandelt, die aus Mitgliedern verschiedener Parteien bestünden, wodurch eine Vielfalt an Perspektiven ein ganzheitlicheres Bild der Probleme und Lösungen ermöglichen könnte. Auch Wähler/innen hätten einen klaren Vorteil, da sie so wieder mehr nach Inhalten wählen könnten, die ihnen wirklich zusagen, was wiederum die politische Partizipation steigern könnte. Für jedes Thema könnte man die passende Partei wählen und somit verhindern, dass man automatisch anderen Programmpunkten einer Partei zustimmt, mit denen man nicht einverstanden ist.
In den Niederlanden findet genau solch ein Wahlexperiment bereits statt. Rudy van Belkom hat 2015 die Initiative namens „Het Nieuwe Kiezen“ gegründet, die ein alternatives Wahlmodell fordert, bei dem das Wählen von Parteien durch das Wählen von Themen abgelöst werden soll. Zunächst soll die Idee durch eine Petition an die niederländische Regierung herangetragen werden. Bisher ist es noch nur ein Onlineexperiment, an dem in den Niederlanden stimmberechtigte, interessierte Bürger auf der Website teilnehmen können. Dennoch zeigt es bereits, dass ein Interesse an alternativen Wahlsystemen besteht. In diesem Video ist das Ganze noch einmal erklärt (englische Untertitel möglich).
Aber funktioniert das auch?
Das Wahlmodell erscheint zunächst als eine einfache Lösung, um Bürger wieder mehr in das Wahlgeschehen mit einzubinden. Bei näherer Betrachtung lassen sich jedoch auch einige Kritikpunkte feststellen. Das Wählen verschiedener Parteien zu verschiedenen Themen könnte gar die Demokratie untergraben statt sie zu stärken, da diese vom Streit und Kompromiss zwischen den Interessengruppen lebt. Demokratie kann manchmal langsam sein und Geduld fordern, jedoch ist dadurch gewährleistet, dass alle Stimmen gehört werden.
Das erscheint oft ineffizient, dennoch könnte eine solche Situation ebenfalls in dem alternativen Wahlsystem entstehen, wenn beispielsweise Bürger jeweils zur Hälfte komplett gegensätzliche Parteien und deren Standpunkte für ein Thema wählen. Dann müssten sich diese Parteien in der Expertengruppe wiederum durch Kompromisse einigen, was bereits bei einer Regierung mit Opposition oder einer großen Koalition so der Fall ist.
Die Expertengruppen, die das alternative Wahlmodell als Vorteil verspricht, gibt es innerhalb der Parteien und Regierung bereits. Auch wenn jede Partei ihren Fokus auf einen anderen Bereich legt, so haben sie doch in ihren Reihen Experten für jedes Thema, das politischer Entscheidung bedarf. Im Fall einer großen Koalition oder einer Koalition zwischen zwei oder drei Parteien ist somit auch die Vielfalt von Perspektiven gewährleistet. Da normalerweise nicht nur eine einzelne Partei die Regierung stellt und auch immer eine Opposition gebildet wird, arbeiten stets Experten aus verschiedenen Parteien miteinander an bestimmten Themen.
Auch im Fall von politischen Linien, die miteinander verstrickt und voneinander abhängig sind wie beispielsweise Bereiche, die Geld fordern, wäre solch ein Wahlmodell zu vereinfacht. Die enge Verknüpfung zwischen der Forderung von gewissen Regelungen und die Planung der Ausgaben dafür sind viel komplexer, als dass man einfach verschiedenen Parteien für beide Bereiche unabhängig voneinander wählen könnte. Das Regierungsprogramm einer Partei muss immer als Ganzes gesehen werden, in dem die Regelung eines Bereichs auf einen anderen stützt, damit verknüpft oder davon abhängig ist.
Ob sich dieses System auch in Deutschland etablieren könnte, ist fraglich. In der Form, wie es bisher von Rudy van Belkom beworben wird, ist es sehr vereinfacht und lässt noch viele Fragen offen. Dennoch gibt es einen Denkanstoß, wie man unsere Demokratie noch verbessern könnte.
Was haltet ihr von der Idee?
Henny
Spannend! Ich habe noch nicht ganz verstanden, wie das alternative Wahlsystem funktionieren würde, bzw. habe noch einige Kritikpunkte, ähnlich wie zu Volksentscheiden auf Bundesebene, die mir konzeptuell verwandt scheinen. Oder sehe ich das falsch? Magst du das Vorgehen bitte nochmal näher erläutern?
Lioba Martin
Danke für deinen Kommentar Henny! Hier in diesem Video ist die Idee (mit englischen Untertiteln) sehr gut erklärt: https://www.youtube.com/watch?v=PN1a95W3ZTE
Nochmal ganz einfach zusammengefasst: In dem alternativen System würde man nicht das Gesamtpaket einer Partei wählen, d.h. man muss alle Standpunkte zu jedem Bereich der Partei, die man wählt, akzeptieren. Sondern für jeden Bereich wie bspw. Bildung, Gesundheitswesen, Umwelt oder innere Sicherheit könnte man die Politik der Partei wählen, der man zustimmt. Man sucht sich quasi aus allen Parteiprogrammen die bevorzugte Regelung für jeden Bereich aus und kombiniert diese, statt alle Regelungen zu allen Themen von nur einer Partei zu wählen. Die gewählten Parteivertreter kommen dann in Expertengruppen zusammen, wo sie nur an einem bestimmten Thema arbeiten, anstelle von einer großen Koalition, wo alle an allen Themen arbeiten.
Ich hoffe das beantwortet deine Frage!
Welche Kritikpunkte siehst du an dem System?
André
Ich halte das für einen interessanten Ansatz, der aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven genauer betrachtet werden sollte. Gibt es bereits einen allumfassenden Namen für dieses System, um sich ggf. näher damit beschäftigen zu können? Danke und LG
Lioba Martin
Vielen Dank für deinen Kommentar André!
Bei meiner Recherche konnte ich leider bisher nichts weiteres dazu finden, auch keinen allumfassenden Namen. Die Idee scheint noch sehr unerforscht zu sein. Rudy van Belkom sagte in einem Interview auch, dass es dieses System noch nirgendwo in der Welt gäbe. Ich fände eine Betrachtung aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven auch sehr interessant.