Als Carol Ann Vetter im Jahre 1971 zum dritten Mal schwanger wurde, hoffte sie darauf, dass das Schicksal es gut mit ihr meinte. Sie hoffte darauf, dass die 50-prozentige Wahrscheinlichkeit eintreffen würde, mit der sie einen gesunden Sohn zur Welt bringen könnte und sie hoffte darauf, dass ihr drittes Kind länger leben würde als ihr erster Sohn, der im Alter von sieben Monaten verstarb. Carol Ann hoffte auf ein Wunder, denn sie trug ein defektes Gen auf einem ihrer X-Chromosomen. Im Falle einer Weitergabe dieses fehlerhaften Gens würde der Junge in ihrem Bauch genau so wie ihr verstorbenes Kind an einer Krankheit leiden, die sich durch ein fehlendes Immunsystem auszeichnet.
Leben ohne Abwehrzellen
SCID (severe combined immunodeficiency) – so heißt die seltene Erbkrankheit, die dafür sorgt, dass die betroffenen Patienten keine oder nur mangelhafte Immunzellen bilden können. Dementsprechend sind diese Personen sehr anfällig für Infektionen jeglicher Art. Unbehandelt führt die Krankheit zum frühen Tod meist innerhalb des ersten Lebensjahres. An SCID leidende Menschen müssen vor krankmachenden Erregern geschützt werden, indem ihre Umgebung möglichst keimfrei bleibt. Neuere Forschungen hoffen auf eine dauerhafte Heilung der Krankheit durch Knochenmarktransplantationen, denn so kann der Körper des Betroffenen selbst zur Bildung der Blutzellen angeregt werden.
Am 21. September 1971 wurde ihr Sohn David Vetter mit SCID geboren. Nach der Geburt legte die Hebamme des Texas Children’s Hospitals den Jungen umgehend in eine sterile Kunststoffbox, dort sollte er bleiben, bis die Ärzte neue Ansätze zum Schutz des Kindes vor Krankheitserregern finden würden. So wurde David mit sterilisiertem Wasser getauft, bekam desinfiziertes Spielzeug und speziell verarbeitete Nahrung ohne pathogene Keime. Ursprünglich war Davids gesunde Schwester als Spenderin für eine Knochenmarkstransplantation geplant, leider stellte sich jedoch heraus, dass sie nicht geeignet war. So wurde aus der Übergangslösung ein Dauerzustand und David Vetter wurde berühmt als „bubble Boy“, dem Jungen, der in einer Blase lebte.
Davids Welt bestand aus einer Plastikblase
Im Laufe der Zeit wurde er mehrmals umgesiedelt und in angepasste, größere Kunststoffboxen untergebracht. Die Ärzte und Davids Eltern versuchten ihm sein Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. David hatte sterile Kuscheltiere in seiner Box und erhielt einen eigenen Fernseher, er wurde sogar durch die Plastikwand hindurch unterrichtet, aber dennoch war ihnen allen klar, dass David bei Weitem keine normale Kindheit genießen durfte. Er konnte nie seine Mutter direkt berühren, geschweige denn mit ihr kuscheln. Wer David anfassen wollte, tat dies über in die Plastikwand eingebaute Kunststoffhandschuhe.
Zudem war er ständig Lärm ausgesetzt, da Motoren die Luft in seiner Plastikblase konstant halten mussten. Natürlichen Wind hingegen kannte er gar nicht, seine Auffassung von der Welt beschränkte sich auf das Leben in seiner Plastikblase im dritten Stock des Kinderkrankenhauses in Texas.
David erhielt ab dem Alter von drei Jahren Betreuung von der Kinderpsychologin Mary Ada Murphy. Sie wurde zu seiner besten Freundin. Eines Tages fragte sie ihn, wie er einen Baum beschreiben würde. „Es ist ein braunes Rechteck mit einem grünen Oval oben drauf“, lautete seine Antwort. Murphy war erstaunt, dass David so wenig von der Welt da draußen wusste und da er ihr nicht glauben wollte, dass das Grüne aus Blättern bestand, holte sie kurzerhand etwas Laub und zeigte es ihm. „Ich habe noch nie in meinem Leben so großes Staunen gesehen“, sagte Murphy später.
„Warum machen wir das alles?“
Als Kleinkind dachte David noch, er wäre genauso wie alle anderen Kinder. Als er jedoch eines Tages begann, mit scharfen Gegenständen die Wand seiner Behausung einzuritzen, wurde er über seine Krankheit aufgeklärt. Als David acht Jahre alt war, realisierte er, dass er ein einsames und kurzes Leben führen würde. Von da an lebte er in ständiger Angst, sich mit Keimen zu infizieren. Die NASA baute ihm zwar einen speziellen Schutzanzug, mit dessen Hilfe es ihm ermöglicht wurde, die Welt draußen zu sehen und Spaziergänge in der freien Natur zu machen – Davids Angst vor Krankheitserregern sorgte aber dafür, dass diese Ausflüge bald wieder eingestellt wurden. Eines Sommers sagte er zu Murphy: „Warum bin ich die ganze Zeit so wütend? Was auch immer ich mache basiert auf den Entscheidungen, die andere Leute für mich gefällt haben. Warum sagst du, dass ich lernen soll zu lesen? Wozu soll das gut sein? Ich werde nie in der Lage sein, irgendwas damit zu machen, also sage mir, warum machen wir das alles?“. „Ich kann dir nicht sagen warum“, lautete Murphys nüchterne Antwort.
„Vielleicht verliere ich den Verstand.“
David war ein verschlossener Junge, der viel Zeit damit verbrachte, über seine Situation nachzudenken. Ihm war bewusst, dass er ein Leben in Isolation führte und seine Unfähigkeit, aktiv gegen seine Krankheit anzukämpfen, machte ihn oft traurig und wütend. Im Laufe der Zeit entwickelte er psychische Auffälligkeiten. Als er eines Tages davon hörte, dass einer seiner behandelnden Ärzte aufgrund eines Herzinfarkts auf der Intensivstation lag, beschmierte er seine Plastikblase mit Kot. Laut Murphy war dies ein Ausdruck für Davids Angst davor, von anderen Menschen verlassen zu werden.
David plagten zudem immer wieder Albträume. So berichtete er unter anderem von tausenden von Spinnen, die auf ihn zu krabbelten. In einem anderen Traum wurde er von Keimen verfolgt, die seine Plastikblase durchdringen wollten. Zu Murphy sagte er: „Vielleicht bin ich verrückt. Vielleicht verliere ich den Verstand.“
David wurde immer unzufriedener und allen Leuten waren sich bewusst, dass er nicht für immer in der Blase bleiben konnte. Als er zwölf Jahre alt war, entschieden sich die Ärzte und seine Eltern für eine Knochenmarktransplantation mit der Spende von Davids Schwester, obwohl deren Blutstammzellen nicht hundertprozentig spendertauglich waren. Die Transplantation wurde im Oktober 1983 durchgeführt. Zunächst schien es David besser zu gehen, bald jedoch stellte sich heraus, dass bei der Blutuntersuchung seiner Schwester ein versteckter Virus übersehen worden war. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde der Junge ohne Immunsystem krank. Es ging ihm zunehmend schlechter, er litt unter starken Schmerzen und so willigte er im Februar 1984 ein, dass man ihn aus der Kunststoffblase befreite, um seine Symptome besser behandeln zu können.
Der Fall David Vetter sorgte weltweit für großes Aufsehen und lenkte die Aufmerksamkeit der Forschungsgemeinschaft auf die Krankheit SCID. Eine Heilung kann durch Transplantation der Blutstammzellen erfolgen. Derzeit wird auch an neuen Möglichkeiten der Gentherapie geforscht. Vielleicht wird es bald möglich sein, das defekte Gen aus der DNA rauszuschneiden und durch die gesunde Version zu ersetzen.
Für David Vetter kommen diese Erkenntnisse zu spät. Nur 15 Tage, nachdem er aus der Plastikblase herausgeholt wurde, verstarb er an Lymphdrüsenkrebs. Kurz vor seinem Tod durfte Carol Ann Vetter ihren Sohn zum ersten und letzten Mal umarmen und küssen.
Der Junge ohne Immunsystem wurde zwölf Jahre alt. Für die einen bedeutet seine verhältnismäßig lange Lebenszeit ein Triumph und großer Fortschritt in der Medizin, für die anderen jedoch ist Davids Geschichte ein trauriges Beispiel für die Überheblichkeit der Forscher, die das Leben eines Menschen um jeden Preis verlängern wollen, auch wenn sie dabei ständige Isolation und psychischen Stress für die Betroffenen in Kauf nehmen.
Offen bleibt die Frage, ob es das alles wert war.
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