Der „Stammtisch zur Pforte“ ist ein Ort, an dem es nur Helfer und Gäste gibt: Menschen aus sehr verschiedenen Welten, die sich auf Augenhöhe begegnen. Wie funktioniert das? Ein Blick hinter die Kulissen eines ungewöhnlichen Konzepts.
Der „Stammtisch“ ist ein beliebter Treffpunkt für Obdachlose und sozial Ausgegrenzte aus ganz Bonn. Das Besondere: Hier engagieren sich ausschließlich Studenten, und das auch oder sogar hauptsächlich am frühen Morgen. In den Räumlichkeiten der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) frühstücken sie mit den Gästen, tauschen sich aus, führen Gespräche. Von der kühlen Distanz, die den Menschen sonst auf der Straße entgegenschlägt, ist nichts zu spüren.
Montagmorgen, 07:25 Uhr. Ich schäle mich mit einem müden Blick auf den Wecker aus dem Bett. Um 07:30 Uhr beginnt in der Semesterzeit die Stammtischschicht, das ist brutal früh für mich, nicht aber für unsere „Gäste“, die mich am Eingang bereits erwarten, mich mit einem freudigen „Guten Morgen“ begrüßen und mir die Tür aufhalten. Wie schafft man es, so früh am Morgen schon so gut gelaunt zu sein? Ein paar Schritte weiter in der Küche steht Anna, sie hat schon die Brötchen geholt, die Kaffeemaschine läuft. Ein zweiter Blick auf die Uhr. Genau 07:30 Uhr, die Schicht kann beginnen.
Getragen von Spenden, Ehrenamt und Einsatz
Thorsten Rademacher, Referent der KHG Bonn, ist der Leiter, er hat den Stammtisch im Jahr 2012 übernommen oder, wie er es formuliert, „geerbt“. Er ist zwar nicht bei jedem Frühstück anwesend, leitet aber die Organisation und koordiniert das Helferteam und findet trotzdem Zeit für ein Gespräch. „Irgendwie ist ja schon offensichtlich, was die Idee dahinter ist“, sage ich. „Was denn? Was ist denn so offensichtlich?“, fragt Thorsten lachend zurück. „Offensichtlich ist, dass man versucht, ihnen, also den Gästen, mit Liebe und Respekt zu begegnen, ihnen natürlich irgendwie auch was zu essen zu geben, und einen Raum zu schaffen, wo sie einfach angenommen sind“, versuche ich zu formulieren. Würdest du das irgendwie anders sagen?
„Die Motivation ist tatsächlich einfach unser Glaube. Die persönliche Beziehung, die wir als Christen zu Gott haben: Da erfahren wir selber Heil, Gnade, Respekt, Annahme, Liebe, Vergebung und Erneuerung. Außerdem begründe ich das mit der Sendung Jesu zu den Menschen durch Gott. Gott sendet Jesus in diese Welt, anhand dessen, was er getan und wie er gelebt hat, sehen wir, was Gottes Wille ist. Wir haben auch den Auftrag, irgendwie so zu handeln und zu predigen. Durch uns hindurch ist Jesus, Gott da präsent. Eigentlich kann man als Christ gar nicht anders, wenn man so eine Armut und so einen Mangel sieht, als hinzugehen und zu helfen, in dem Rahmen, wo man es leisten kann.“
Und er fügt hinzu: „Eigentlich würde ich das nicht einmal einschränken. Wir haben als Christen die Aufgabe, hinzugehen. Dabei sieht man sich immer bestimmten Grenzen ausgesetzt, z.B. hier in der Hochschulgemeinde, weil unsere Aufgabe primär die Studentenarbeit ist, sodass man aufpassen muss, diesen Auftrag nicht zu vernachlässigen, einfach weil die Armut so groß ist. Es sind ja auch nicht nur die Obdachlosen, die kommen, sondern auch die Bedürftigen; die, die noch eine Wohnung haben, aber durch ihre Biographie oder ihre Sozialisierung am Existenzminimum leben, die unter Ausgrenzung und der geistigen, emotionalen Armut leiden.“
Etwas Gutes in der neuen Heimat bewirken
08:00 Uhr: im Idealfall ist jetzt alles vorbereitet. Mittlerweile haben sich zu den munteren Frühaufstehern vor der Tür einige noch eher verschlafene Gesichter gesellt. Die Tür wird geöffnet, sofort bildet sich eine Schlange vor dem Kaffeeautomaten. Die Vorliebe für Kaffee haben Gäste und Studenten jedenfalls gemeinsam. Apropos Studenten: Anna, warum hilfst du eigentlich beim Stammtisch?
„Warum ich das mache? Ich möchte einfach konkret etwas Gutes tun, etwas Gutes bewirken hier in Bonn. Das ist jetzt meine Heimatstadt, und ich möchte etwas zurückgeben, den Leuten helfen, die nicht so viel haben. Außerdem freut es mich, jede Woche die Gesichter der Leute zu sehen. Man merkt einfach, dass sie sich freuen und dann freut man sich auch.“
Im Hintergrund ruhige Bruno-Mars-Musik. Anna erzählt mir von ihrem schönsten und ihrem schrecklichsten Erlebnis: Von einem Gast, der im Vollrausch zu Frühstück kam und heraus gebeten werden musste, aber auch von dem Vertrauen, dass die Gäste aufbauen, sodass sie immer mehr von sich preisgeben, sogar ihre Lebensgeschichten erzählen. „Dass jemand besoffen zum Frühstück kommt, ist zum Glück eher selten“, fügt sie lachend hinzu. Und etwas nachdenklich: „Leider kann man nicht helfen und wir dürfen auch nicht helfen. Das hier ist wirklich Zuhören und Brötchen schmieren.“
Was fehlt, sind Begegnungen
Wenn ich das so höre, klingt Zuhören und Brötchenschmieren plötzlich irgendwie nach ganz schön wenig. Müsste, könnte, sollte man nicht lieber konkrete Hilfe anbieten, die über ein einfaches Frühstück und ein bisschen Kaffee hinausgeht? Es mag überraschen, aber viele Gespräche und einiges Nachdenken weiter lautet meine Antwort: Nein! Nein, zunächst, weil der Stammtisch eine ehrenamtlich getragene Aktion ist, die rein auf der freiwilligen Mitarbeit von Studenten beruht. Aufgaben wie Betreuung und Beratung erfordern aber Mitarbeiter mit entsprechenden Kompetenzen. Nein aber auch deshalb, weil es genügend hauptamtliche Stellen gibt, die entsprechende Hilfe und Beratungen anbieten: der Bonner Verein für Gefährdetenhilfe, die Caritas in der Fritz-Tillmann-Straße. Was fehlt, sind also nicht unbedingt Suchtberatungen und Hilfe bei Behördengängen. Was fehlt, sind Begegnungen.
„Unser Glaube ist die primäre Motivation, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir den eigentlichen Auftrag, den wir vom Bistum haben, nicht vernachlässigen. Wir sind hier eine Art Multiplikatorenstelle, wo Herzensbildung erfolgt in der Hoffnung, dass die Studenten, die hier eine Begegnung mit Jesus erleben, sich selbst senden lassen, denn in der Begegnung mit Jesus kommt diese Erfahrung. Es kommt der Punkt, da möchte man diese Begegnung weitergeben. Der Stammtisch ist da vielleicht ein beispielhaftes Handeln, ein Vorangehen.“
Eine Stunde, drei Gespräche und unzählige Tassen Kaffee später ist alles vorbei. Anna und ich räumen die Tassen und Teller in die Spülmaschine, überzeugen die letzten Gäste, die übriggebliebenen Brötchen mitzunehmen, räumen die Reste auf. Für die meisten Menschen beginnt jetzt der Arbeitstag, auch Anna und ich müssen gleich zur Vorlesung. Immerhin: Gefrühstückt haben wir schon.
Nicolás Heyden
Was für ein schönes Projekt! Weißt Du zufällig, ob es zu dieser Aktion ein Spendenkonto gibt? 🙂
Liebe Grüße