Benedict Wells hat seinen Erstlingsroman „Spinner“ grundlegend überarbeitet und neu herausgebracht. Wir haben seine Neufassung für euch gelesen.
Das Wunderkind ist erwachsen geworden. Benedict Wells, 32, geboren 1984 in München. Schriftsteller. Durchbruch als 23-Jähriger mit dem Roadtrip „Becks letzter Sommer“ (Diogenes Verlag, 2008), wo ein Musiker seinen ungeliebten Lehrerjob an den Nagel hängt und seiner Midlife-Crisis mit einer waghalsigen Fahrt über den Balkan bis an den Bosporus entfliehen will. Episch dagegen die beiden nachfolgenden Romane: Ein junger Mann reist in „Fast genial“ (2011) quer durch die USA, auf der Suche nach dem Spender aus der Samenbank. Der soll ein genialer Kopf sein, mit Sicherheit aber sein Vater. Mit „Das Ende der Einsamkeit“ (2016) erobert Wells nicht nur einen schwindelerregend hohen Platz in den Bestsellerlisten (Platz vier aktuell bei der SPIEGEL-Liste), sondern auch die Herzen seiner Leser. Jules, Liz und Marty werden nach dem Autounfall ihrer Eltern zu Waisen, fortan haben die drei eine ganz spezielle Beziehung zueinander. Es geht ums Auseinandergehen und Zusammenfinden. Der zentrale Satz spricht mit einer außergewöhnlichen Lebenstiefe des Autors: „Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit“. Ein großer Roman. Wells segelt auf seinen bisherigen Höhepunkt zu!
Alte Kritiken
Seinen Erstling ließ Wells allerdings nicht in der Schublade verschimmeln. „Spinner“, so heißt der Roman, schrieb er nach eigenen Angaben mit 19 Jahren. In Wells‘ Biographie steht: „Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs.“ Während dieser Zeit entstand „Becks letzter Sommer“, aber eben auch „Spinner“. Man könnte von einem Meister- („Becks“) und einem Gesellenstück („Spinner“) sprechen. Als sich der Überraschungserfolg von „Becks letzter Sommer“ einstellte, entschied sich der Verlag 2009 zur Veröffentlichung von „Spinner“.
Vielleicht war das ein Fehler. Wie das nun mal mit genialen Debüts so ist, kann darauf natürlich nur eine riesengroße Enttäuschung für alle Feuilletonisten folgen. Die Geschichte von „Spinner“ ist zwar ähnlich rasant erzählt (auch wilde Gangsterpassagen sind inbegriffen), kann inhaltlich aber nicht ganz punkten. Anders als der Roman über den Enddreißiger Beck ist der Ton deutlich persönlicher und autobiographisch gefärbt. Und darin bestand die Hauptanklage der Kritiker vor sieben Jahren: Die Story eines Anfangzwanzigers über einen Anfangzwanziger kann nur trivial sein, im besten Fall gehobenes Bahnhofsbuchhandlungsniveau. Ein „seltsam altbackener Jugendslang“, befand DIE ZEIT. Doch lesen wir lieber mal selbst. Und zwar die Neufassung des Anfangdreißigjährigen über einen noch immer Zwanzigjährigen.
Darum geht’s…
Der zwanzigjährige Jesper Lier (Erkennungsmerkmal: eiskalte Hände) aus München will um jeden Preis Schriftsteller werden. Dazu muss er raus aus der Isarstadt, es verschlägt ihn in die Spreemetropole Berlin. Doch sein 1.200 Seiten langes Manuskript will niemand verlegen, es hagelt nur Absagen. Und auch mit der Liebe läuft es nicht so rund. Auf Miri wirft er ein Auge, als er sie zufällig bei seiner Rückmeldung an die Universität sieht. Er muss nämlich an die Uni und sich für Politikwissenschaften einschreiben, sonst bekommt er nämlich kein Kindergeld mehr. Die gemeinsame Nacht bedeutet für die Philosophiestudentin (natürlich!) nur einen „Ausrutscher“, für ihn aber ist Miri die große Liebe, auch wenn er seiner Mutter eine Sandra vorgaukelt, um sie zu beruhigen. Über seinen Gelegenheitsjob in der Gazette „Berliner Merkur“ erfährt man außerordentlich wenig. Jespers Chef jedenfalls langweilt sich über das Buch „Leidensgenossen“, an dem er in der Nacht immer schreibt. „Ihr Buch ist der totale Stillstand.“ Nichts klappt, so scheint es. Natürlich läuft ihm auch noch die Nachbarskatze davon, auf die er aufpassen soll.
Frank und Gustav, seine beiden Freunde, reißen ihn aus der Höhleneinsamkeit, aus seiner „Alleinsamkeit“. Frank ist eigentlich schwul, wie sich rausstellen wird. Jesper erwischt ihn und den offen schwulen Gustav von Wertheim beim Liebesspiel. Vor Schreck macht er das Licht aus und wieder an. Aus und wieder an. Und läuft weg. Weit weg von seinen Alpträumen.
Überhaupt gibt sich Jesper seinen Träumen zu sehr hin. Einmal wird ihm das fast zum Verhängnis, da er das Namensschild des Vormieters zu entfernen vergessen hat. Dunkle Gestalten kommen ihm beinahe zu nahe.
… und was ist davon zu halten?
Die Vorhersehbarkeiten wollte Wells nicht austilgen – vielleicht konnte er auch einfach nicht. Denn anders als es die Kritik vor acht Jahren bescheinigen wollte, lebt „Spinner“ von diesen Stereotypen. Der bedauernswerte Held Jesper Lier spiegelt die unausgegorenen Lebensentwürfe der „Generation Praktikum“ wider. Aber all das würde nicht funktionieren, nähme man die Gefühlsebene aus Wells Werk raus. Denn Benedict Wells ist ein Schriftsteller der Empfindungen. Die Gefühle sind echt, sie sind erlebt. Es wimmelt nur so vor Musik- und Filmanspielungen, die diese Ebene untermalen. Zu „Vom Ende der Einsamkeit“ hat der Diogenes-Verlag eine eigene Soundtrackliste erstellt, vielleicht wird das für „Spinner“ auch noch nachgeholt. Das würde die Geschichte bestimmt noch gefühlvoller, noch authentischer machen.
Mit seinem großen Vorbild John Irving teilt sich Wells die Liebe zum Absonderlichen. Man merkt das an Plots wie „Fast genial“. Aber eben auch am Kitsch, an der erzählerischen Ordnung, an der vorhersehbaren knappen Präzision seiner Stories. Mit Anfang dreißig läuft Wells zu Hochform auf. Er will nicht stehen bleiben, sondern „dem 19-jährigen [sic!] in mir eben auch die Chance geben, diesmal alles so zu schreiben, wie er es eigentlich wollte, ohne Angst“, wie er sagt. Man kann das schon am veränderten Cover sehen. Anstatt des Pop-Art-Bildes „3 feet“ von Peter Stanick ziert die „New edition“ eine Radierung von Elizabeth Peyton. Der abgebildete junge Mann mit Wuschelkopf, Zigarette im Mund, den traurigen Augen und dem träumerischen Blick hat viele äußerliche Ähnlichkeiten mit Benedict Wells. Der ist erwachsener geworden, aber immer noch das Sprachrohr für den Übermut, die Unsicherheit und die chaotische Zuversicht seiner Generation. Gegen Ende des Romans steht vielleicht der Schlüsselsatz: „Es ist der Fluch der Jugend, dass man glaubt, ständig zu leiden. Doch wenn diese Zeit vorbei ist, stellt man verwundert fest, dass man sie geliebt hat. Und dass sie nie mehr zurückkommt.“
Benedict Wells: Spinner. Roman, Diogenes Verlag, Zürich 2016. 12 Euro, ISBN: 978-3257243840.
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