Immer wieder wird in den Medien darüber berichtet. Es ist eines der dominierenden Themen in den letzten Jahren: Inklusion. Es geht um die Interaktion zwischen „gesunden“ und „behinderten“ Menschen im Alltag. Doch wie viel hat die Etablierung des Themas in der Politik gebracht? Welche Fortschritte konnten in den vergangenen Jahren verzeichnet werden? Viel wichtiger ist es jedoch herauszufinden, wie spürbar Inklusion ist.
Die Spieler sind heiß auf das Meisterschaftsspiel. Der Titelverteidiger aus Bremen könnte nach diesem Wochenende erneut eine deutsche Meisterschaft feiern. Die Spieler kommen unmittelbar vor dem Spielbeginn im Kreis zusammen. „An der Nordseeküste“, hallt es aus ihrer Mitte. Die Chemie stimmt. Ihre Gegner stimmen sich mit ähnlichen Ritualen ein. Es geht los. Der Puck trifft auf die Eisfläche und die beiden Mannschaften kämpfen um jede Chance. Die Heimmannschaft aus Wiehl schafft den Traumstart und erzielt binnen zehn Minuten eine komfortable 3:0 Führung. Wird die Entscheidung im Titelrennen vertagt? Die Weserstars schmeißen in den folgenden zwei Dritteln alles dagegen und schaffen es in die Overtime. Die Spannung, welche jetzt in der Luft liegt, überdeckt die eisigen Temperaturen in der Wiehler Eissporthalle. Irgendetwas fehlt. Ein spannendes Spiel in der deutschen Liga, zwei starke Mannschaften und ganz großer Sport, doch die Tribüne ist bis auf einige wenige Fans leer. Ich befinde mich nicht beim Eishockey-Finale der DEL, sondern beim Spieltagsturnier der deutschen Sledge-Eishockey Liga.
Sledge-Eishockey gehört zur Königsklasse des Behindertensports
Von dieser Sportart werden die Wenigsten bislang gehört haben, obwohl unsere Nationalmannschaft 2005 Europameister wurde und bereits nächsten Monat in Schweden erneut um diesen Titel antreten wird. Der große Unterschied zum Eishockey ist, dass die meisten Spieler eine Behinderung im Beinbereich haben. Damit sie sich jedoch rasant über die Eisfläche bewegen können, gibt es extra angefertigte Schlitten, welche über eine Kufe, eine Sitzschale und entsprechende Befestigungsgurte verfügen. Zur Fortbewegung dienen zwei verkürzte Eishockeyschläger an deren Oberseiten sich Spikes befinden. Vor einiger Zeit gab es in Deutschland noch mehr als vier Teams. Mannschaften, wie der KEK Köln, haben sich aufgelöst, während andere sich zu Spielgemeinschaften zusammengeschlossen haben. Einige Spieler der Dresdener Cardinals sind beispielsweise zusätzlich in der tschechischen Liga aktiv, da dort ein regelmäßigerer Spielbetrieb stattfindet. „In anderen europäischen Staaten sind wir wesentlich bekannter, da wird man auch eher auf der Straße erkannt. Das liegt einfach an der anderen Wahrnehmung des Eishockey und des Sledgesports in beispielsweise Skandinavien“, sagt Andreas Pokorny, Nationaltrainer und dreifacher deutscher Meister mit den Kölner Haien. Ein weiteres Problem im Behindertensport neben der geringen Aufmerksamkeit ist der fehlende Nachwuchs. Die Spieler sind zwischen 20 und 55 Jahren alt, finden jedoch kaum neuen Zuwachs, obwohl dieser jederzeit willkommen ist. Besonders in Süddeutschland fehlt eine Verbindung zur Sportart, da dort kein Verein angesiedelt ist, obwohl Bayern eine der Hochburgen für Wintersport ist.
Inklusion ist, wenn man nicht bemerkt, dass die Menschen im Umfeld behindert sind
Als ich die Spieler in der Drittelpause beobachtete, bemerkte ich nicht, dass neben mir Andreas Pokorny stand. Die Spieler von Wiehl-Karmen machten sich bereit, doch bevor es weiterging, rief der Nationaltrainer einen Spieler heran, um ihn zu begrüßen und mit ihm über die anstehende Europameisterschaft zu besprechen. Der Spieler klatschte den Techniker Erich Nassauer, Andreas Pokorny und mich ab, als würde ich dazugehören. Etwas am Spielfeldrand unvorstellbares, zumindest man ist im Fußballstadion. Ich finde es persönlich schade, dass solch großartigen Sportlern und Charakteren höchstens Platz in Lokalzeitungen gegeben wird, wenn über die Ergebnisse in den Kreisligen bereits berichtet wurde. Die phänomenale Leistung kann durch die reine Betrachtung zwar erahnt werden, jedoch wollte ich wissen, wie es sich anfühlt, Sledge-Eishockey zu spielen. Außerhalb von internationalen Wettkämpfen können auch Spieler ohne Behinderung um die deutsche Meisterschaft kämpfen.
Von außen betrachtet, wirkte ich behinderter als die tatsächlich behinderten Jungs
Ich kam am Montagabend nach dem Turnier in die Kabine, wo sich die Spieler für das Training fertigmachen. Einer schraubt sich die Prothese ab und hüpft durch die Kabine, während der nächste im Rollstuhl durch die Kabine fährt. Damit ich mittrainieren konnte, ist der Kapitän Marc Müller extra nochmal umgekehrt, um mir einen Schlitten zu besorgen. In der Generation von „Darf er das?“ – Diskussionen war es mir zunächst unangenehm, dass ich solche Umstände machte. Auf die Frage „Ihr seid sicher, dass ich euch nicht beim Training behindere?“ kam prompt die Antwort: „Du kannst uns nicht behindern, wir sind ja schließlich schon behindert“ – direkt war das Eis gebrochen. Man braucht keine Berührungsängste haben, denn wir alle sind gleich, nur, dass die Lieblingsfarbe bei manchen eine andere ist. Dann war mein großer Moment gekommen und ich durfte auf einen Schlitten. Marc hatte mich fest geschnallt und meinte zunächst, dass es vielleicht besser wäre, wenn die Gurte noch fest gezogener wären. Ich hatte aber schon einige Sekunden zuvor das Gefühl, dass der Schlitten sich unmöglich von mir lösen kann. Mit sehr viel Hilfe habe ich es dann auf das Eis geschafft und nach einiger Zeit das erste Mal einen Puck geführt. Der Vergleich meiner Leistung mit denen meiner Trainingspartner ist der Grund dafür, dass ich ihnen gegenüber unheimlichen Respekt habe. Ich musste so oft meine Beine einsetzen, obwohl es auch ohne gehen muss. Spätestens als ich in der Kabine derjenige war, der am ehesten das Ende seiner Kräfte erreicht hatte, bestätigte es sich. Die Jungs sind großartig.
Für die Zukunft wünsche ich mir einige Dinge: Unserer Gesellschaft sollte bewusst werden, was Inklusion wirklich bedeutet und wie gut es sich anfühlt, wenn diese funktioniert. Aus sportlicher Perspektive wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit für die Behindertensportarten, denn wer denkt, dass es nicht mit dem „gesunden“ Sport zu vergleichen ist, sollte es dringend ausprobieren. Zu guter Letzt wünsche ich mir, dass der Wunsch einiger Nationalspieler wahr wird, denn sie wünschen sich nicht nur sagen zu können, dass sie zu den Paralympics fahren können, sondern zu den olympischen Spielen. Ein Wunsch über den jeder aus seiner und der Perspektive der Spieler nachdenken sollte.
Henning Schulze
Tolle Jungs! Drei davon sowie viele weitere Sportler, die die Inklusion leben, haben wir in unserer Kampagne “Gemeinsam was ins Rollen bringen!” porträtiert. Reinklicken lohnt sich: http://www.ins-rollen-bringen.de