Von einem Schulausflug, zu dem über dreihundert Schüler aufbrachen, kehrten nur 75 lebend zurück. Ziel der Schüler und weiterer Passagiere war die Ferieninsel Jeju, die sie mit der Fähre „Sewol“ erreichen sollten. Dazu ist es nie gekommen, denn die Sewol sank kurz vor ihrem Ziel. Was eine großartige Erinnerung werden sollte, endete in einer Katastrophe, die bis heute ganz Südkorea in Trauer versetzt.
Im Dezember 2018 befand ich mich in Südkoreas Hauptstadt Seoul auf dem zentralen Gwanghwamun-Platz. Er sollte nur einer der vielen Sehenswürdigkeiten sein, die ich an diesem Tag besuchte, doch mit einem Mal stand ich vor einer Gedenkstätte für die Opfer der Sewol-Katastrophe. Während ich die Fotos von über 300 Menschen betrachtete – 250 davon Schüler – erzählten mir meine beiden koreanischen Freunde Haneul und Juhye die Geschichte des tragischen Untergangs der Fähre „Sewol“ (세월호).
Das Sinken der Sewol
Mittwoch, 15. April 2014. Um 21 Uhr Ortszeit legt die Fähre von Incheon (Seoul) ab und beginnt die vierzehnstündige Überfahrt. Das Ziel, die Ferieninsel Jeju, wird sie jedoch nicht erreichen, denn auf dem Weg dorthin ereignet sich Koreas größtes Schiffsunglück. An Bord befinden sich 476 Menschen, inklusive 33 Besatzungsmitglieder. Die größte Gruppe der Passagiere stammt von der Danwon Highschool mit 325 Schülern aus allen Jahrgängen (erste bis zehnte Klasse) und 15 Lehrern. Sie alle unternehmen einen Schulausflug zur Jeju-Insel.
Donnerstag, 16. April 2014. Nahe der Insel Jindo im Gelben Meer nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Zwischen 8:44 und 8:49 Uhr fährt das Schiff eine scharfe Schleife nach rechts. Daraufhin gerät es in eine Schräglage und beginnt zu sinken.
8:55 Uhr. Ein erstes Notsignal wird von der Crew abgesetzt. Die Küstenwache in Jeju gibt Anweisung, die Passagiere auf eine Evakuierung vorzubereiten. Gehandelt wird jedoch anders: Etwa 45 Minuten lang werden die Passagiere wiederholt aufgefordert, in ihren Kabinen zu bleiben, da es dort sicherer sei.
9:25 Uhr. Mit dreizehn Offizieren trifft eine halbe Stunde nach dem Notsignal die Küstenwache ein. Aufgrund des kalten Wassers und der Strömung werden zunächst die sich im Wasser Befindenden gerettet. In die ersten Rettungsboote retten sich auch der Kapitän des Schiffes und einige Crew-Mitglieder – noch während die Passagiere über Lautsprecher weiterhin angewiesen werden, ihre Kabinen nicht zu verlassen! Würden sie sich bewegen, könne die Situation noch gefährlicher werden, heißt es in den Durchsagen.
9:37 Uhr. Viel zu spät wird die Evakuierung eingeleitet. Mittlerweile ein unmögliches Unterfangen, da das Schiff bereits zu 60 Grad geneigt ist.
9:40 Uhr. Zehn weitere Offiziere erreichen den Unglücksort mit drei Helikoptern. Gerettet werden nun Passagiere, die sich an Deck der Sewol befinden. Da die anwesenden Küstenwache-Offiziere kein ausreichendes Training auf einem sinkenden Schiff mit solch einer starken Neigung haben, wird auf trainierte Rettungstaucher gewartet. Diese kommen jedoch erst zwei Stunden später an.
11:18 Uhr. Die Fähre Sewol ist gesunken, lediglich der Bug steht noch über Wasser. 304 Menschen befinden sich noch im Bauch des Schiffes.
Vergebliche Rettungsversuche
Mit verstreichenden Tagen beteiligen sich über 700 Rettungstaucher an der Suche nach Überlebenden. Auch Tauchroboter werden eingesetzt. Aufgrund schlechter Wetterbedingungen und starker Strömung müssen die Rettungsversuche regelmäßig unterbrochen werden. Keiner der Menschen, die mit dem Schiff sanken, wurde gerettet. In der Vermissten-Suche, die sich über mehrere Monate hinzog, konnten lediglich die Leichen geborgen werden. Drei Jahre nach der Katastrophe wurde die Bergung der Sewol vorgenommen, um die immer noch neun Vermissten zu finden und die Gründe für das Sinken der Sewol festzustellen. Im Oktober 2018 wurde die Suche eingestellt. Fünf Sewol-Opfer bleiben für immer vermisst – zwei Danwon-Schüler, ein Danwon-Lehrer und ein Vater mit seinem Sohn.
Der tragische Untergang der Sewol forderte 304 Opfer. Davon waren 250 Schüler – junge Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Ganz Südkorea trauerte. Durch die lückenhafte Aufklärung, die schleppende Rettungsaktion und misslungenes Krisenmanagement vonseiten der Regierung konnte das Land nie ganz mit der Katastrophe abschließen.
Zahlreiche Gedenkstätten wurden errichtet mit der Gelben Schleife als Trauersymbol. An der Danwon High School wurden Stille-Klassenzimmer eingerichtet, die noch mindestens ein Jahr einzig dem Zweck des Gedenkens dienten. Mit Fotos, Blumen, Briefen und Geschenken wurden die Plätze der Schüler von Angehörigen und Freunden gefüllt. In der Stadt Seoul finden sich verschiedenste Gedenkstätten, eines der größten befand sich auf dem bereits erwähnten Gwanghwamun-Platz mit vierzehn Zelten. Erst nach fünf Jahren wurde es abgebaut und soll durch ein kleineres Denkmal ersetzt werden.
Als ich mich mit meinen koreanischen Freunden vom Denkmal am Gwanghwamun-Platz entferne, sehe ich einen Gelbe Schleife-Anhänger an der Handtasche Juhyes. Nicht nur sie, auch viele weitere Südkoreaner tragen sie, um sich der Opfer zu erinnern. Fünf Jahre standen die Denkmäler; durch ihr Entfernen verschwanden zwar die öffentlichen Erinnerungen an die Sewol-Katastrophe, in den Herzen der Südkoreaner bleibt sie jedoch unvergessen. Das Schlusswort überlasse ich Juhye, die mir kurz vor dem fünften Jahrestag der Katastrophe folgendes sagte:
„Der 16. April rückt näher… Die Menschen werden bald traurig sein. Viele können die Erinnerungen immer noch nicht loslassen. Ich auch nicht. Immer wenn ich ein Video über die Sewol sehe, fange ich sofort an zu weinen. Ich denke, die meisten Südkoreaner haben von der Sewol-Katastrophe eine Narbe in ihrem Herzen davongetragen.“ (Juhye Park)
Weitere Hintergründe zu Gründen des Sinkens und weiterem Vorgehen nach der Katastrophe gibt es in Teil 2.
Widmung
Opfer der Sewol, wir vergessen euch nicht!
세월호 희생자를 기리며, 우리는 절대 잊지 않겠습니다.
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