In meinem letzten Artikel habe ich die Aspekte „Selbstmitleid“ und „Opfermentalität“ thematisiert. Ein weiterer wichtiger Punkt in Bezug auf die Borderline-Störung ist der Selbsthass. Vielen Betroffenen ist gar nicht bewusst, dass sie einen Hass auf die eigene Person hegen. Doch auch hierfür gibt es Gründe.
Wir leben im Zeitalter der Selbstliebe. Von allen Seiten wird propagiert, dass man Selbstliebe und Selbstfürsorge betreiben soll. Dann wird das Leben schön und wunderbar. Man selbst gilt als der Schöpfer seines Lebens und wenn du dich nur selbst genug liebst, sind alle Sorgen verflogen und das Leben steht dir offen. Was du tun musst? Affirmationen – affirmiere, und zwar reichlich! So einfach? (siehe hierzu auch meinen Artikel: „Persönlichkeitsentwicklung – Vorsicht bei der Wahl deines Coaches”)
Ein Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung, ein Borderliner oder auch ein Narzisst wird seinen Selbstwert mit Affirmationen nicht einfach umgewandelt bekommen. Ein Mensch mit einer Borderline-Persönlichkeitsstruktur muss sich erst mal über einen tiefsitzenden Selbsthass bewusstwerden, den er insgeheim hegt.
Jeder ist selbstkritisch, aber gleich von Selbsthass sprechen?
Auch ich war mir nicht bewusst, wie wie ablehnend ich mir selbst gegenüber all die Jahre war. Klar, war ich sehr kritisch mir selbst gegenüber und habe mir einige Taten nicht wirklich vergeben können. Und ja, auch ich habe dumme Dinge getan, die mir selbst geschadet haben. Aber gleich von Selbsthass sprechen? Ist das nicht übertrieben? Doch wenn man sich mit seinen destruktiven und meist nicht-bewussten Glaubenssätzen beschäftigt, die man jahrelang hegte, und die Annahmen über die eigene Person einmal explizit ausspricht oder aufschreibt, ist das schon mit einer tiefen Ablehnung gegenüber sich selbst gleichzusetzen, dem Selbsthass.
Woher kommt diese tiefe Ablehnung?
Menschen mit traumatischen Erlebnissen, welche unter Gewalt, emotionaler Vernachlässigung und / oder einfach einem gefühlskalten Elternhaus leiden mussten, können von dieser Thematik betroffen sein. Ein Baby oder Kind, welches derartige Verletzungen seiner (Grund-)Bedürfnisse erfahren hat, schlussfolgert aus der Haltung seiner Bezugspersonen ihm gegenüber, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Immer wieder versucht ein Neugeborenes, Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen, so ist die Natur des Menschen. Wenn es keine adäquate Zuwendung erhält, dann verinnerlicht es, dass mit ihm etwas nicht stimmen muss und dass es nicht liebenswert ist. Und wenn das Kind wiederkehrend oder dauerhaft solche Erlebnisse erfahren musste, dann entwickelt es eine Wut sowie eine tiefe Scham. Denn wenn ich da bin, aber niemand sich um mich kümmert, dann glaube ich eigentlich gar kein Recht zu haben, zu leben oder es gar verdient, am Leben zu sein. Aus dieser Scham entwickelt sich eine tiefe Ablehnung sich selbst gegenüber.
Aufgrund der vorhandenen Abhängigkeit und der noch wenig ausgeprägten emotionalen Intelligenz ist es nicht möglich, dass das Kind den Fehler dort sieht, wo er eigentlich hingehört: Bei den Eltern, die sich nicht richtig gekümmert haben. Somit geschieht eine Umkehr. Über die Frustration, überhaupt Bedürfnisse in sich zu tragen – was ja scheinbar falsch ist – sonst würden diese ja gesehen werden, entwickelt sich eine immense Wut. Nur leider kann ich es aufgrund meiner Abhängigkeit nicht an meine Bezugspersonen richten. Immerhin hängt mein (Über-)Leben von diesen ab. Die einzige (Selbst-) Kontrolle, die ich noch habe, ist, dieses Gefühl auf mich zu richten. Und da wir gelernt haben, brav zu sein, um nicht noch mehr Misshandlung zu erleben, habe ich die Wut in mir eingeschlossen. Tief in mir drin bleibt die Wut dann stecken und der Nährboden für den Selbsthass wird über die Scham überhaupt am Leben zu sein, genährt.
Abwehrstrategien und Dissoziation führt zum Selbstverrat
Nun kann ich, als Kind, nicht nur in der Ecke sitzen und mich selbst hassen oder auf mich wütend sein. Meine Überlebens notwendigen Grundbedürfnisse wie Essen und Schlafen müssen ja weiterhin erfüllt werden. Also überlegt sich das Kind Strategien, um die Mutter zu besänftigen und wenigstens etwas zu erhalten und verrät sich somit selbst. Mit drei bis vier Jahren kann niemand ausziehen und sagen. „Ich kümmere mich jetzt um mich selbst!“. Also passe ich mich an und verrate mich selbst, um Liebe und Zuwendung zu erhalten. Und weil das alles so unerträglich ist, spalte ich die böse Mutter einfach komplett aus meinem Bewusstsein. So entsteht die Dissoziation. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich erst mit 34 Jahren daran erinnert habe, dass meine Mutter mich und meine Geschwister körperlich und emotional misshandelt hat.
Sag mir, wer ich bin und dass ich etwas wert bin!
Ich werde nicht müde, immer wieder zu betonen, dass ein Mensch mit Borderline nicht so auf die Welt gekommen– das gilt auch für mich selbst! Wir sind nicht mit diesen Gefühlen, diesen negativen Glaubenssätzen, diesen falschen Annahmen über uns selbst und den daraus resultierenden destruktiven Verhaltensweisen geboren worden. Wir haben übernommen, wie uns unser Umfeld geformt und gespiegelt oder auch nicht gespiegelt hat. Es ist von außen impliziert. Daraus haben wir unseren fragilen Selbstwert definiert. Aus diesem Grund ist der Borderliner auch im Erwachsenalter immer auf die Spiegelung seines Umfeldes angewiesen. Daran erkennt er, ob er etwas „wert“ ist. Mitunter ist es auch so, dass die im Außen eingeholte Bestätigung immer wieder eingeholt werden muss. Das beliebte „Liebst du mich noch? – Spiel“ ist eines davon. Ein anerkennendes Lob des Vorgesetzten ist vielleicht auf die gerade erfolgte Leistung in Ordnung und annehmbar. Aber bin ich auch in drei Wochen noch gut, wenn ich keine erfolgreiche Präsentation abgegeben habe? Da schließt sich der Borderline-Kreislauf des fragilen Selbstwertes wieder. Ich kann jetzt noch weitere Brücken schlagen, die das Verhalten eines nicht-therapierten Menschen mit Borderline erklären und auf die womöglich erlebte Kindheit zurückgehen. Doch ich denke, ich werde dies in einem gesonderten Artikel erläutern – vielleicht aber auch nicht.
nico
ich bin gerade auf diesen artikel gestossen und hane selbst schwer mit meiner bpd zu kämpfen. der autor scheint sich bestens mit dem thema auszukennen und selbst davon betroffen (/gewesen) zu sein. ich würde gerne um intuitivem rat fragen, welche Therapieform er/sie vorschlagen würde oder selbst probiert hat. ich weiss nicht ob gelegentlich eine therapiesrunde reicht, oder ich in eine klinik sollte. vielen dank