Der Finger des Papstes zeigte senkrecht nach oben. „En el cielo“, sagte er und lächelte auf diese Weise, wie nur er lächeln kann. „Sie ist im Himmel.“ Die Frau, die Franziskus bei der Generalaudienz am 30. März 2016 als Quasi-Heilige adelte, war erst wenige Tage zuvor am Ostersonntag verstorben. Sie war eine einfache Nonne, die bei ihrem Tod nicht nur eine trauernde Ordensgemeinschaft hinterlässt, sondern auch das größte religiöse Mediennetzwerk der Welt. Ihr Name: Mutter Angelica. Ein Portrait von Rudolf Gehrig.
Am 20. April 1923 im US-Bundesstaat Ohio geboren, bekam sie von ihren italienisch stämmigen Eltern den Namen Rita Antoinette Rizzo. Eine einfache Kindheit hatte sie nicht; erst verließ der Vater die psychisch instabile Mutter, dann brach die Weltwirtschaftskrise mit voller Wucht über die dezimierte Familie herein. 1929 folgte die Scheidung der Eltern und die junge Rita stand als Scheidungskind im gesellschaftlichen Abseits. Hinzu kam ein schweres Magenleiden, und Rita Rizzo, die sich später rückblickend als „lauwarme Katholikin“ bezeichnete, erlebte eine Art Bekehrung, als sie durch das Gebet der Mystikerin Rhoda Wise überraschend geheilt wurde. Sie trat 1944 in das Kloster der Klarissen der Ewigen Anbetung in Cleveland ein und nahm dort den Ordensnamen Maria Angelica an. Die Umstellung fiel der lebenslustigen und impulsiven Italo-Amerikanerin anfangs nicht leicht. So erzählte später eine ihrer Mitschwestern, dass die junge Schwester Angelica von der Oberin wiederholt öffentlich gerügt wurde. Als Angelica nach einer dieser Standpauken wortlos zu ihrem Platz zurückging und mit großem Appetit zu essen begann, fragte ihre Mitschwester mit Tränen in den Augen, wie sie denn jetzt noch essen könne. „Weil ich Hunger habe“, so die lapidare Antwort der jungen Novizin.
Die Garagen-Geburt des größten katholischen Fernsehsenders
Nachdem sie 1962 ihr erstes Kloster in Irondale (Alabama) gegründet hatte und als Oberin fortan mit „Mutter Angelica“ angesprochen wurde, begann sie bald danach mit der Produktion erster katholischer Fernsehsendungen, obwohl sie, wie sie freimütig zugab, vom Fernseh-Machen „keine Ahnung“ hatte. Ähnlich wie bei Steve Jobs und „Apple“ begann der Aufstieg von Mutter Angelicas Unternehmen in einer Garage. Mit lediglich 200 Dollar Startguthaben gründete sie 1981 in einem Schuppen ihres Klosters den Fernsehsender Eternal Word Television Network (EWTN). „Wenn du nicht den Mut hast, etwas Lächerliches zu tun“, so ihr Credo, „kann Gott auch nichts Wunderbares daraus machen.“ Trotz zahlreicher Widrigkeiten und finanzieller Engpässe entwickelte sich EWTN mitten im protestantisch-evangelikal geprägten „Bible Belt“ zum Sprachrohr der US-Katholiken, begleitet vom ausdrücklichen Wohlwollen des damaligen Papstes Johannes Paul II., mit dem sie eine enge Freundschaft verband. Der Umstieg vom Kabelnetz auf Satellitenfernsehen ermöglichte in den 90er Jahren schließlich die Expansion des Senders nach Lateinamerika und nach Europa.
In diesem Zeitraum lernte Mutter Angelica Martin Rothweiler kennen. Beide trafen sich zu einem Gespräch in Birmingham, wo man über den Aufbau von EWTN in Deutschland sprechen wollte. Rothweiler erinnert sich, dass sie sich lange über Gott, die Kirche und auch die Philosophie des Thomas von Aquin unterhielten. Als das Gespräch zu Ende war, funkelte die Nonne den Deutschen durch ihre dicken Brillengläser zufrieden an und sagte zu einem ebenfalls anwesenden Mitarbeiter: „I think, he can do it.“ Auch Martin Rothweiler betrat Neuland. Ab dem Jahr 2000 begann er, im Keller seines Privathauses nach und nach die Fernsehredaktion von EWTN Deutschland aufzubauen. Im selben Jahr trat in den USA Mutter Angelica als Vorsitzende und CEO zurück, um sich wieder mehr dem Klosterleben zu widmen. Nach wie vor trat sie in ihren berühmt gewordenen „Mother Angelica live“-Shows auf, in denen sie in ihrer unverwechselbaren Art über Gott und seine Kirche sprach und geduldig die Fragen ihrer Zuschauer beantwortete, die telefonisch zugeschaltet wurden.
EWTN kommt nach Deutschland – und landet im Keller
Eine Sendung handelte darüber, wie man sich anständig zu kleiden habe, als Mutter Angelica schelmisch grinsend den älteren Zuschauern zurief: „Niemand sagt Ihnen das, weil alle befürchten, Ihre Gefühle zu verletzen. Aber glauben Sie mir: Bei manchen von euch alten Mädels ist es wirklich besser, etwas mehr zu bedecken! Was immer Sie herzeigen wollen, ist eh nicht mehr vorhanden.“ 2001 erschien sie zu einer ihrer Shows auf einmal mit Augenklappe und einem schief nach unten hängenden Mund. Sie hatte einen schweren Schlaganfall gelitten, wenig später folgte ein zweiter. An ihrem 80. Geburtstag trat Mutter Angelica das letzte Mal live im Fernsehen auf und zog sich danach endgültig in ihr Kloster zurück. Papst Benedikt zeichnete sie 2009 mit dem päpstlichen Orden Pro Ecclesia et Pontifice aus, während sich ihr Leiden verschlimmerte.
Unterdessen machte EWTN in Deutschland einen wichtigen Schritt nach vorn. Der Umstieg auf denASTRA-Satelliten (12460 MHz) ermöglichte eine noch größere Verbreitung des Senders. Mittlerweile gibt es seit 2011 ein 24-Stundenprogramm in deutscher Sprache. Der deutsche EWTN-Kanal „EWTN katholisches TV“ erreicht über Satellit und einige regionale Kabelnetze mittlerweile mehr als 21 Millionen Haushalte und kann als Live-Stream im Internet und mit einer EWTN App auch auf mobilen Geräten wie Smartphones und Tablets rund um die Uhr empfangen werden. Nach 14 Jahren im Keller der Rothweilers (das Büro wurde zwischenzeitlich von Hochwasser heimgesucht) zog EWTN nach Köln. In den neuen Redaktionsräumen in der Schanzenstraße kümmert sich ein kleiner Mitarbeiterkreis um die täglichen Anliegen der Zuschauer. Da es Mutter Angelica von Anfang an ein Anliegen war, unabhängig von Werbeeinnahmen zu bleiben, finanziert sich auch die deutsche Sektion ausschließlich durch freiwillige Spenden. Diese Angewiesenheit auf die Großzügigkeit der Zuschauer, schmunzelt Rothweiler, erfordere immer wieder großes Gottvertrauen. „Die Methode dieses Erfolges, wenn man so will, ist dieses absolute Gottvertrauen, wirklich mit Gott und Jesus im engen Gespräch zu sein und danach zu fragen, was der Heilige Geist einem sagt.“
Papst: „Sie ist im Himmel“
Die letzten zehn Jahre von Mutter Angelicas Leben waren von großen Schmerzen geprägt. Ihr wichtigstes Instrument, ihre Stimme, war ihr genommen. Vom Krankenbett aus opferte sie ihre Leiden für ihr Werk auf. Am 27. März 2016 wurde Mutter Angelica schließlich heimgerufen – am Ostersonntag. „Ihre einzige Angst war, nicht Gottes Willen zu tun“, erzählte Pater Joseph Maria Wolfe in seiner Predigt bei der Beisetzung der Ordensfrau. Aus aller Welt trafen Beileidsbekundungen ein. Die Geschichte des einstigen Scheidungskindes aus Ohio, das sich trotz vieler Enttäuschungen immer von Gottes Liebe getragen fühlte und diese Hoffnung über die Medien an Millionen Menschen weitergab, hat viele berührt. Selbst in Rom trauert man an höchster Stelle um die bodenständige, unerschrockene Frau. „Sie ist im Himmel“, sagte Papst Franziskus drei Tage nach ihrem Tod, als ihm EWTN-Mitarbeiter ein Bild von Mutter Angelica zeigten.
Ob Mutter Angelica ebenfalls von ihrer Heiligkeit überzeugt war? Fakt ist, dass sie sich Zeit ihres Lebens ihrer menschlichen Mangelhaftigkeit bewusst war. Ihren Mitarbeiter Raymond Arroyo, der eine beeindruckende Biografie über die Fernseh-Nonne geschrieben hat, warnte sie eindringlich, er solle sie in seinem Buch bloß nicht verklärend überhöhen. Sollte dies dennoch geschehen, warnte sie, wünsche sie ihm „40 Jahre Fegefeuer“. Ihr Biograph hat sich an diese Vorgabe gehalten; falls sie eines Tages also dennoch heiliggesprochen werden sollte, liegt es zumindest nicht an ihm.
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