Über kaum eine historische Gestalt wird so viel gesprochen, geschrieben und gelesen wie über Jesus Christus. Im Neuen Testament berichten gleich vier Evangelien über sein Leben und Sterben. Viermal die gleiche Geschichte? Nein, die Evangelien unterscheiden sich voneinander. Warum das so ist, und warum das gut ist, erklärt unser Autor Benedikt Bögle.
Was macht eine gute Geschichte aus? Vor allem, dass sie etwas Neues erzählt. Etwas, das noch nie da gewesen ist, was überrascht, was den Leser fesseln kann. Innerhalb des Christentums werden wenige Texte so oft gelesen wie die vier Evangelien, die über das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi berichten. Da verwundert es, dass diese Berichte auf den ersten Blick ein Kriterium einer guten Story nicht erfüllen: Sie erzählen viermal eine mehr oder weniger gleiche Geschichte. Weshalb?
Schon wenige Jahrzehnte nach dem Tod Jesu entstehen die ersten Evangelien. Ihr Name ist Programm: „Evangelium“ bedeutet aus dem Griechischen übersetzt so viel wie „Frohe Botschaft“. Die Texte wollen von der frohen Botschaft erzählen, die Jesus den Menschen verkündete.
Erzählungen werden verschriftlicht
Der Ursprung dieser Texte liegt in mündlichen Erzählungen. Die ersten Christen glaubten wie die Christen bis heute, dass Jesus der Sohn Gottes war, der Retter der Welt. Eine Botschaft, von der man natürlich spricht, die man weitererzählen möchte. Bald jedoch sterben die ersten Zeugen des Lebens und Sterbens Jesu, bald lebt auch niemand mehr, der die Apostel noch kannte. Also muss ihr Zeugnis aufgeschrieben werden, will man es für die Nachwelt bewahren.
Das vermutlich älteste Evangelium ist das von Markus, es entstand nach dem heutigen Stand der Forschung in den Jahren um 70 nach Christi Geburt. Nur wenig später verfassen Lukas und Matthäus ihre Evangelien, etwa 110 nach Christus entsteht der Text von Johannes. Jeder dieser Autoren hatte dabei eine ganz konkrete Gemeinde vor Augen, einen Kreis von Christen, für die sie ihre Evangelien schrieben. Die vier Evangelien, die sich heute in der Bibel finden, sind nicht die einzigen Lebensbeschreibungen Jesu. Dazu kommen mehrere „apokryphe“ Texte, Evangelien also, die den Weg in die Bibel nicht geschafft haben und teilweise deutlich jünger sind als die vier sogenannten „kanonischen“ Evangelien.
Verschiedene Jesusbilder
Sehr schnell werden diese vier Evangelien parallel gelesen. Die Aussage dahinter: Jedes Evangelium zeichnet ein eigenes, ganz besonderes Bild von Jesus. Diese Texte verstehen sich nicht als Aufzeichnungen im Sinne eines Tagebuchs, das historisch korrekt und objektiv die Geschichte Jesu darstellt. Vielmehr handelt es sich um Deutungen. Die Evangelisten beschreiben nicht einfach nur das Leben Jesu: Sie wollen erklären, was sein Leben und Sterben für die Menschen bedeutet.
Die eigentliche Geschichte ist in den vier Evangelien ähnlich: Jesus wird von seiner Mutter Maria geboren. Als Erwachsener beginnt er zu predigen, er verkündet das nahe „Reich Gottes“. Seine aufrüttelnden Reden und seine Wunder erzürnen irgendwann das Establishment Israels: Sie wollen Jesus mundtot machen, klagen ihn vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus der Gotteslästerung an und lassen ihn hinrichten. Das aber ist nicht das Ende der Geschichte: Jesus wird von der Toten auferweckt und besiegt dadurch das Böse.
Das Nebeneinander von vier Evangelien zeigt: Vielfalt hat einen festen Platz in der Kirche. Wo von Jesus gesprochen wird, haben verschiedene Deutungen ihren Platz.
Das Markusevangelium
Das älteste der vier kanonischen Evangelien ist zugleich das kürzeste. Markus war der Tradition nach ein Dolmetscher des Petrus, die Forschung geht heute davon aus, dass Markus ein Heidenchrist war, der in erster Linie für Heidenchristen schreibt. Er richtet das Evangelium stark auf den Kreuzestod Jesu aus. Immer wieder wird er als Messias, also als Retter der Welt, bezeugt: Von Dämonen, aber auch von seinen Jüngern. Immer verbietet er ihnen jedoch, darüber zu sprechen. Ist das nicht seltsam? Soll nicht die ganze Welt erfahren, dass er der Messias ist? Was ist der Sinn dieses Geheimnisses?
Die Antwort wird dem Leser erst nach dem Kreuzestod gegeben. Ein römischer Hauptmann erlebt das Sterben Jesu und bekennt: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ (Mk 15,39) Er ist der erste, der unwidersprochen sein Bekenntnis zu Jesus formulieren darf. Der Grund: Er hat ihn sterben sehen. Alle anderen hatten Jesus vor seinem Tod als Messias bekannt. Aber der entscheidende Aspekt ist der Kreuzestod Jesu. Wer diesen Tod nicht akzeptiert, kann Jesus nicht wirklich und ernsthaft als Messias bekennen. Der Kern seiner Gottessohnschaft ist sein Tod für die ganze Welt – das ist die zentrale Botschaft des Markus-Evangeliums. Kurz nachdem Petrus Jesus als den Messias bekannt hat, sagt der Herr seinen Tod voraus. Petrus kann und will das nicht akzeptieren – aber ohne den Tod Jesu Christi hat man nicht begriffen, wie der Messias wirklich ist.
Das Lukas- und das Matthäusevangelium
Lukas und Matthäus orientieren sich in ihren Evangelien stark an Markus – er dient ihnen als Vorlage. An vielen Stellen erzählen beide die gleichen Geschichten, teilweise sogar mit dem gleichen Wortlaut, die bei Markus nicht vorkommen. Sie müssen also eine weitere Quelle haben. Zusätzlich dazu gibt es auch Geschichten, die nur einer der beiden Evangelisten erzählt, das sogenannte „Sondergut“. Dazu gehört etwa das Gleichnis vom verlorenen Sohn, die bekannte Erzählung vom barmherzigen Samariter oder die Begegnung des auferstandenen Jesus mit zwei seiner Jünger auf dem Weg in die Stadt Emmaus. Markus, Lukas und Matthäus haben insgesamt gesehen jedoch oft eine ähnliche Sicht auf die Dinge. Sie werden deswegen auch als die „Synoptiker“ bezeichnet, weil sie – wie das griechische Wort sagt – zusammen auf die Geschichte Jesu blicken.
Gott ist da
Im Gegensatz zu Markus richtet sich Matthäus an eine judenchristliche Gemeinde, er selbst dürfte vor seinem Bekenntnis zum Christentum schon Jude gewesen sein. Neben vielen anderen theologischen Themen zeichnet der Universalitätsanspruch das Matthäusevangelium aus – die Frohe Botschaft richtet sich an alle Menschen. Schon in den ersten Versen wird deutlich, wer Jesus für Matthäus er, er ist der „Immanuel“, „Gott mit uns“. Der Gott, von dem das Evangelium erzählen will, ist ein Gott, der mit den Menschen ist und sich für sie einsetzt. Das wird folglich auch in den letzten Versen des Evangeliums spürbar, die letzten Worte des Auferstandenen an seine Jünger unterstreichen dieses Motiv: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20)
„Evangelium der Armen“
Lukas wird von der kirchlichen Tradition als Arzt bezeichnet, er soll Paulus auf seinen Missionsreisen begleitet haben. Ganz unwahrscheinlich erscheint das nicht: Lukas wird nicht nur das Evangelium, sondern auch die Apostelgeschichte zugeschrieben; dort wird sehr ausführlich von den Reisen des Paulus berichtet, wenngleich Lukas und Paulus aber durchaus von theologischen Differenzen gezeichnet sind. In seinem Evangelium spielen soziale Probleme eine große Rolle, das Lukasevangelium wird deshalb auch als „Evangelium der Armen“ bezeichnet. Das bringen die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter und vom Barmherzigen Vater, der seinen verloren gegangenen Sohn wieder aufnimmt, zum Ausdruck.
Das Johannesevangelium
Das Evangelium nach Johannes unterscheidet sich stark von den anderen drei Texten. Die Gemeinden, für die dieses Evangelium entsteht, stehen schon in sehr großer Distanz zu jüdischen Kreisen, das schlägt sich auch im Johannesevangelium nieder. Manche seiner Passagen wirken sehr philosophisch, Johannes versucht, die griechische intellektuelle Elite der damaligen Zeit anzusprechen. Besonders deutlich zeigt er in den sogenannten „Ich-bin-Worte“, wer und wie Jesus ist: Er ist der „gute Hirte“, der „Weinstock“ oder auch die „Türe zum Leben“.
Das Nebeneinander der vier Evangelien in der christlichen Bibel zeigt: Glaube und Religion braucht Platz für Vielfalt. Diese Vielfalt freilich kann nicht unbeschränkt sein. Jede Glaubensgemeinschaft braucht eine allen gemeinsame Glaubensgrundlage. So auch im Christentum: Die vier Evangelien erzählen von Jesus, dem Sohn Gottes. Das haben sie gemeinsam. Auf der Basis dieser Gemeinsamkeit können dürfen sie aber unterschiedliche Dimensionen des Lebens Jesu betonen und hervorheben.
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