Unsere Lebenszeit ist begrenzt und da scheint es nur zu verständlich, dass wir so viel wie möglich in dieser Zeit erleben wollen. Die Möglichkeiten, zu verreisen, sind einfacher geworden. Doch das birgt auch Schattenseiten, die kaum erwähnt werden.
Wir wollen alle Erfahrungen machen, die zum Leben dazugehören, vor allem aber locken uns die zahlreichen Länder und Kulturen, das Reisen. Zu dem richtigen Boom kam es erst vor einem Jahrzehnt, als plötzlich Flüge so günstig waren, dass es sich auch Studenten erlauben konnten, einfach mal so wegzufliegen. Vorher war es bei vielen der jährliche Urlaub, auf den man ein ganzes Jahr lang hingespart hat. Seit sich auch Work-and-Travel etabliert hat, konnte man die maximale Freiheit genießen und die weite Welt erforschen. Ja vielleicht sogar irgendwo anders auf der Welt eine Heimat finden, als im gesitteten Deutschland mit seinen vielen Regentagen und den strengen Regeln.
Es scheint beinahe schon ein Symptom unserer Zeit zu sein, dass jeder mindestens ein Auslandssemester, Work-and-Travel oder andere Auslandsaufenthalte erlebt und genossen hat. Für manche Großeltern eine undenkbare Möglichkeit und Lebensweise: Immer unterwegs, immer auf dem Sprung. Immer besser, immer mehr, immer auf der Suche.
Doch was steht am Ende dieser Suche?
Diese Frage haben sich viele nicht beantworten können. Ganz egal, wie viel sie gereist sind und was sie alles gesehen haben. Es gibt kein Ende und kein Ziel, es gibt nur den Durst nach immer mehr und immer prägenderen Erlebnissen. Es ist natürlich grundsätzlich großartig, dass Reisen für so viele möglich geworden ist und dass der Bürojob bis zur Rente mit 65 auch keine Option mehr sein muss. Dennoch sollten wir uns fragen, warum wir uns so sehr danach sehnen, wieder weg zu sein, anstatt die Zeit zu Hause und in der Vertrautheit zu genießen.
Der soziale und innere Druck
Gerade Social Media macht es uns vor: Deine Freunde und Kollegen sind ständig unterwegs und sehen das Blau des Mittelmeers, die anderen trinken Cocktails irgendwo auf Bali und die Influencer sind sowieso nur auf Reisen und spotten die tollsten Locations. Da ist es nur ganz natürlich, dass wir mit einem versteckt-neidischen Blick die Frage stellen, ob wir nicht auch verreisen und etwas erleben sollten.
Oder ob wir vielleicht etwas falsch gemacht haben, weil wir nicht diesen Lifestyle leben? Das nennt sich auch sozialer Druck. Der Erwartungsdruck, der zusätzlich auf uns lastet, macht es nicht gerade besser. Wir stehen immer unter Strom, weil wir auf allen Hochzeiten tanzen wollen. Wir müssen uns selbst verwirklichen, unser Potential entfalten und ständig jemandem etwas beweisen.
Wo früher Dinge waren, ist jetzt etwas anderes
Früher war es vielleicht ein Zeichen von Freiheit und Wohlstand, wenn man sich ein Haus, ein Auto oder einen Farb-Fernseher kaufen konnte. Damit hat man bewiesen: Ich kann es mir leisten, ich habe dafür gearbeitet und ich habe es verdient! Der heutige Lifestyle ist zwar auch geprägt von Materialismus, dennoch gibt es auch den Gegentrend, der im Grunde gar keiner ist. Jetzt geht es nicht mehr darum, besonders viele teure Gegenstände zu horten und sich damit zu brüsten.
Jetzt hat sich diese Tendenz aufs Reisen verlagert. Die Erlebnisse sind die neuen Gegenstände und sie sind sogar viel besser: Wir können von ihnen erzählen und andere staunen lassen, was für ein erfülltes und interessantes Leben wir bisher hatten. Klingt das nicht toll? Es gab vor einigen Jahren einen schönen Witz darüber, dass jeder mindesten eine Lisa kennt, die in Australien war und ständig jedem davon erzählen muss. Genau das ist symptomatisch für diese neue Reisesucht.
Die Angst vor der Heimkehr
Angenommen, wir verbringen einen wunderschönen Urlaub in den Bergen oder am Meer. Es ist so ganz anders, als zu Hause, denn die ganzen Umstände sind bequemer. Wir sammeln Eindrücke, sind happy und genießen die Tatsache, dass wir mal an nichts denken müssen. Es geht sogar soweit, dass wir Angst haben. Angst vor der Rückkehr, Angst vor dem üblichen Alltagstrott und dem Loch, in welches wir manchmal nach einer Reise fallen.
Es ist der tiefe Wunsch nach Abwechslung und eine Angst vor dem langweiligen Alltag. Und vielleicht sind die Ursachen auch nur, dass wir eben zu Hause unter Stress stehen oder dass wir zu viele Sorgen und Pflichten haben. Vielleicht steht dahinter aber auch die Angst, uns endlich mit uns selbst auseinandersetzen zu müssen.
Reiseflucht = Selbstflucht?
Vielleicht geht es uns gar nicht darum, das Meer zu sehen oder die Berge. Vielleicht geht es uns in Wirklichkeit nur darum, einfach unsere 7 Sachen zu packen und zu flüchten. Weit weg, wo wir anders sind und unser Leben, wo unsere Probleme und Sorgen uns nicht mehr einholen können. Wo wir uns nicht mit Selbstreflexion und schmerzhaften Gedanken befassen müssen, die uns schlimmstenfalls in Selbstzweifel stürzen. Diese Flucht ist in Wirklichkeit eine Flucht vor uns selbst.
Wir glauben, wir müssten die Welt bereisen, um uns selbst zu finden und verstehen erst am Ende unserer Reisen, dass das was wir wirklich gesucht haben, sich in unserem Inneren befindet: Unser Kern; unsere Überzeugungen; unsere tiefsten Wünsche, die mehr sind, als bloß ein schöner Blick aus dem Hotel; unsere eigene Freiheit, die wir regelmäßig anzweifeln. Wir müssen erkennen, dass wir vieles nur im Gespräch mit uns selbst finden können.
Wir müssen loskommen, von dem Drang, uns und anderen etwas beweisen zu wollen. Ein bisschen davon ist sicher nicht schlecht, aber wir sollten unser Maß finden. Wir müssen unseren stillen Neid ablegen und verstehen, dass wir nicht alles zeigen müssen, um gleichwertig mit anderen zu sein.
Wir sind wertvoll, jede auf unsere Art und Weise, egal ob wir nach Bali reisen oder nur an die Ostsee. Ob wir viel erzählen, oder unsere Erlebnisse lieber für uns behalten. Wir müssen aufhören, uns ständig zu vergleichen und zu profilieren, ganz egal, worin. Und vor allem müssen wir erkennen, dass die Welt zu bereisen, nur eine Erfahrung und keine Antwort auf unsere zahlreichen Fragen ist.
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