„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, weiß der Volksmund. Was dagegen weniger bekannt ist: Aufschieben, oder auch Prokrastination, kann krankhafte Ausmaße annehmen.
Professor Dr. Fred Rist und Margarita Engberding sind Begründer und langjährige Leiter der ersten hochschuleigenen Prokrastinationsambulanz Deutschlands in Münster, ein Pilotprojekt und Hilfsangebot für betroffene Studierende. Ein Interview mit Prof. Rist über die Arbeit mit Studierenden.
Sehr geehrter Herr Dr. Rist, vielen Dank, dass Sie sich heute Zeit genommen haben. Was bedeutet eigentlich der Begriff „Prokrastination“?
Das Wort Prokrastination nennt der Duden erst seit einigen Jahren, vorher musste man auf das englische Wort „procrastination“ zurückgreifen, bzw. das umgangssprachliche „Aufschieberitis“. Prokrastination stammt vom lateinischen „procrastinare“, auf morgen (crastinum) verschieben. Damit bezeichnete man eine wohl überlegte Entscheidung, etwas bis zu einem günstigeren Zeitpunkt zu vertagen. Heutzutage überwiegt jedoch die negative Konnotation des Wortes Prokrastination im Sinne von zögern, zaudern, etwas nicht in Angriff nehmen, obwohl man es hätte tun können.
Wann haben Sie Ihre Tätigkeit an der Prokrastinationsambulanz aufgenommen?
Wir haben die Spezialambulanz für Prokrastination 2004 eingerichtet, weil in unserer Hochschulambulanz zunehmend ein großer Teil der Patienten u.a. wegen belastender Arbeits- und Leistungsprobleme im Studium und im Beruf um Therapie nachsuchte, wobei Prokrastination ein zentraler Faktor für diese Schwierigkeiten war. Die Prokrastinationsambulanz ist eine von mehreren Spezialambulanzen innerhalb der Ambulanz für Psychotherapie am Fachbereich Psychologie und Sportwissenschaften der Universität Münster. Sie wird jetzt von meiner Nachfolgerin, Frau Prof. Dr. Ulrike Buhlmann, geleitet. Sie hat es ermöglicht, dass ich als Seniorprofessor und Frau Dipl.-Psych. Margarita Engberding als frühere Leiterin der Ambulanz weiter Verantwortung für die Prokrastinationsambulanz übernehmen.
Sie sind demnach gewissermaßen im psychotherapeutischen Alltag auf die Problematik der Prokrastination aufmerksam geworden – was hat sie zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung motiviert?
Motivationsprobleme und Defizite der Selbststeuerung bei psychischen Störungen und ihre nachhaltige Veränderung haben uns als Verhaltenstherapeuten an der Universität immer schon interessiert, z.B. auch im Zusammenhang mit Depressionen, Suchtproblemen, Essstörungen oder bei ADHS. Die Tätigkeit an der Hochschulambulanz konfrontierte uns im Alltag ständig mit Problemen akademischer Prokrastination. In der Forschung gab es damals kaum Befunde zur Wirksamkeit spezifischer Therapie-Interventionen; das wollten wir ändern.
Im Kontext Ihrer Arbeit entwickelten Sie u.a. Fragebögen, einer davon ist online zugänglich und ermöglicht eine erste Einschätzung des eigenen Prokrastionationsverhaltens. Zu einer psychologischen Diagnose gehören ja normalerweise aber auch diagnostische Kriterien. Welche verwenden Sie in Ihrer Arbeit, um gesund und krank voneinander zu trennen?
Tatsächlich ist das Fehlen von diagnostischen Kriterien ein anhaltendes Problem der Prokrastinationsforschung. Es gibt eine ganze Reihe von Fragebögen, die erfassen, wie stark und in welchen Situationen jemand zum Aufschieben neigt oder sich dadurch schon behindert und geschädigt hat. Diese Fragebögen erfassen also die Ausprägung von Prokrastination, sie sagen aber nicht aus, ob jemand behandlungsbedürftig ist oder nicht. Aber ohne solche Kriterien ist es z.B. nicht möglich, verbindliche Angaben zur Häufigkeit behandlungsbedürftiger Prokrastination zu machen.
Den Erfolg von Studien zur Behandlung von Prokrastination können wir schlecht vergleichen, wenn die Kriterien zur Aufnahme von Klienten mit Prokrastination in jeder Studie anders sind. Um zu verbindlichen diagnostischen Kriterien zu gelangen haben wir auch ermittelt, ab welcher Stärke der Prokrastination psychische und körperliche Begleitsymptome auftreten. Mithilfe statistischer Methoden identifizierten wir sieben Merkmale im Sinne diagnostischer Kriterien für eine behandlungsbedürftige Prokrastination. Wir haben dies bereits auf der letzten internationalen Prokrastinationskonferenz in Chicago vorgestellt, gerade bereiten wir einen wissenschaftlichen Aufsatz dazu vor. In einer Querschnittsuntersuchung mit circa 1.000 Studierenden verschiedener Fachrichtungen erfüllten circa zehn Prozent der Teilnehmer diese Kriterien.
Eine relativ hohe Zahl. Inwieweit sehen Sie an dieser Stelle ein Ungleichgewicht zu einem stellenweise dürftig wirkenden Behandlungsangebot? Die Prokrastinationsambulanz der Universität Münster ist immerhin die einzige in ganz Deutschland.
Tatsächlich erhält die Prokrastinationsambulanz immer wieder und vor allem dann, wenn wieder ein Bericht über unsere Arbeit in den Medien erscheint, aus allen Bundesländern und sogar aus dem Ausland drängende und oft verzweifelte Anfragen, ob denn eine Behandlung an der Ambulanz möglich sei. Dies ist allerdings leider nicht möglich, da die beiden Stellen in der Prokrastinationsambulanz ausschließlich aus Mitteln zur Verbesserung der Studienbedingungen (QVM) in Münster finanziert werden und deren Leistungen somit auch nur Münsteraner Universitätsangehörigen zur Verfügung stehen.
Womit lässt sich diese geringe Zahl an Behandlungsangeboten erklären? Verstellt vielleicht die diagnostische Unschärfe des Konzeptes bzw. die fehlende internationale Anerkennung der Diagnose (z.B. durch ICD-10) den Weg?
Damit haben Sie das Hauptproblem benannt! Weder in den ICD-10 noch im DSM 5 taucht Prokrastination als eigene Störung auf. Da Prokrastination hier fehlt, kann sie auch nicht von einem psychologischen Psychotherapeuten abgerechnet werden – es sei denn, sie geht mit einer anderen, im Katalog der ICD-10 vorhandenen Störung einher.
Sie würden Prokrastination aber als eine psychische Störung bezeichnen?
Bei pathologischer Prokrastination ist die Kompetenz zur Selbstregulation weitgehend und langfristig abhandengekommen – das ist ein Kriterium für eine psychische Störung. Das könnte man jetzt lange theoretisch ausführen, aber ich berichte stattdessen, wie ein Betroffener sein Erleben schildert: „Ich weiß genau, dass ich jetzt für die Prüfung lernen müsste, aber ich fühle mich wie gelähmt. Ich räume auf, ich schicke E-Mails, ich suche in Google, das lenkt mich etwas ab – aber ich denke ständig an das, was ich tun sollte. Irgendwann ist es zu spät für heute, und ich verschiebe alles auf morgen und habe ein total schlechtes Gewissen.“ Das ist eine Verhaltensstörung, die auf Dauer fast zwangsläufig Depression, Angst, Schlafstörungen und körperliche Symptome nach sich zieht.
Durch die fehlende internationale Anerkennung der Diagnose sind auch keine Leitlinien, etwa zur evidenzbasierten Psychotherapie, vorhanden. Welche Verfahren und Behandlungsmethoden kommen bei Ihnen zum Einsatz und ist ihre Wirksamkeit wissenschaftlich belegt?
Die Prokrastinationsambulanz unterhält u.a. ein gruppentherapeutisches Behandlungsangebot von fünf wöchentlich stattfindenden Sitzungen. Vorgeschaltet sind eine umfassende psychologische Untersuchung mithilfe von standardisierten Fragebögen und eine Woche, in der nur das „normale“ eigene Arbeitsverhalten protokolliert wird. Ausgehend davon wird bspw. in einer der Trainingsbedingungen erst einmal eine Arbeitszeitbeschränkung eingeführt: Die Teilnehmer dürfen diese Basislernzeiten nur nach festen Regeln verlängern und lernen so wieder die Unterscheidung zwischen (knapper und deshalb zu nutzender) Arbeitszeit und Freizeit. Damit wird kohärentes Arbeiten „gelernt“.
In einem anderen Modul wird das „pünktliche Beginnen“ trainiert: Erlernen fester Verhaltensrituale, die das pünktliche Beginnen zum geplanten Zeitpunkt steuern helfen. Zur Verbesserung der Arbeitstechnik dient auch noch das „realistische Planen“: Aus Zeitdruck und wegen schlechten Gewissens nehmen sich Aufschieber regelhaft zu viel vor – was zu immer neuen Frustrationen führt. Realistisch Planen, was in einer Arbeitseinheit erledigt werden kann, ist deshalb ein wichtiger Teil effizienten Arbeitsverhaltens. Den Erfolg dieses Behandlungsangebots haben wir an einer großen Zahl von Klienten nachgewiesen, indem wir sorgfältige Untersuchungen zu Beginn der Behandlung, am Ende der Behandlung und drei Monate nach Abschluss der Behandlung durchgeführt haben. Die empirische Fundierung unserer Behandlungsmethode unterscheidet unseren Ratgeber von der großen Zahl anderer Selbsthilferatgeber zur Prokrastination, die in der Literatur und im Internet zu finden sind. Sehr bestätigend für dieses Angebot ist auch die erstaunlich geringe Abbruchrate.
Nehmen wir an, einige Leser können sich identifizieren: Sie mögen nicht unter zwanghafter Prokrastination leiden, sich aber zu insgesamt zielstrebigerem und möglichst aufschubfreiem Arbeitsverhalten motivieren. Was empfehlen Sie?
Für interessierte Personen haben wir einen Online-Selbsttest entwickelt, mit dem man sich kostenlos und anonym eine Rückmeldung über das Ausmaß der eigenen Prokrastination verschaffen kann. Dort kann man auch erfahren, ob vielleicht Aufmerksamkeitsprobleme oder depressive Symptome mit dem Aufschieben verbunden sind. Der Test ist auf der Website der Prokrastinationsambulanz frei verfügbar. Nach zahlreichen Umfragen halten sich übrigens mehr als 50 Prozent der Studierenden für „Aufschieber“; die meisten davon würden allerdings unsere Kriterien für pathologisches Aufschieben noch nicht erfüllen.
Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Arbeitsverhalten scheint aber weit verbreitet zu sein. Profitieren würde auch diese weniger gestörte Gruppe von der Anwendung der Prinzipien, die wir für die Behandlung der pathologisch Prokrastinierenden entwickelt und veröffentlicht haben: Die Selbststeuerung für die Planung und Durchführung von Arbeitssitzungen verbessern durch Konzentration auf realistische Planung und pünktliches Beginnen, durch Beschränkung auf definierte, knapp gehaltene Arbeitsgelegenheiten und Abschirmung gegenüber Ablenkungen. Betroffene mit ganz unterschiedlicher Prokrastinationsbelastung könnten dadurch eine klare Trennung zwischen Arbeitszeit und Erholungszeit und damit eine höhere Produktivität und Lebenszufriedenheit erreichen.
Wenn Sie einmal alles zusammengenommen betrachten: Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit am meisten?
Die Arbeit an der Prokrastinationsambulanz ist interessant und vielseitig, denn bei jedem Betroffenen ist die Ausprägung der Problematik sehr individuell. Entwicklung und Anwendung verschiedener Diagnostik- und Interventionsmaßnahmen im Einzel- und Gruppensetting, die Möglichkeit präventiv zu arbeiten, die Zusammenarbeit mit den Kollegen der Psychotherapieambulanz und die supervisorische Unterstützung der Ambulanztherapeuten bei Prokrastinationsproblemen ihrer Patienten – dies alles gestaltet sich sehr abwechslungsreich und herausfordernd. Auch die Hochschulbindung und der Kontakt zur aktuellen klinisch-psychologischen Forschung wirken sich wechselseitig anregend und ertragreich aus. Vor allem aber freuen uns die Erfolge, wenn wir Patienten bei ihren persönlichen Fortschritten unterstützen konnten – weg vom chronischen, quälenden Aufschieben und hin zur aktiven und produktiven Aufgabenbewältigung.
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