Das Wort des Jahres 2016: „postfaktisch“ ist nicht nur das neue Lieblingswort von Jan Böhmermann, sondern auch ziemlich bezeichnend für die heutige Zeit. Ist die Menschheit wahnsinnig geworden?
Es scheint, als sei auf der Welt eine stille Panik ausgebrochen. Als hätten die Gefühle das Steuer übernommen und die Vernunft setzt aus. Der Terrorismus, ein Krieg ohne klare Fronten und Regeln, führt in unzähligen Ländern zur Rückbesinnung zum Nationalismus. Ein Konzept, das noch nie funktioniert hat, den Leuten aber verspricht, ihnen wieder Sicherheit zu geben und Panik zu nehmen. Es spaltet die Gesellschaften und führt zu unheimlich viel Hass.
Eigene Realitäten
„Postfaktisch“ beschreibt es ganz gut: Tatsachen rücken in den Hintergrund, Fakten werden verdreht, werden gefühlt. Jeder kann seinen eigenen Blog aufmachen und seine Realität an andere weitergeben. Das führt dazu, dass sich viele Nutzer einseitig informieren – schließlich liest sich die eigene Meinung so viel einfacher. Verschiedene Blickwinkel sind einfach out und zu kompliziert, so scheint es. „Fake News“ spielen dabei eine große Rolle. Frei erfundene Meldungen – um den eigenen Standpunkt zu unterstützen oder einfach, um viele Klicks zu generieren. Damit lässt sich gutes Geld verdienen.
So genannte „Mainstream-Medien“, die „Lügenpresse“, muss sich derzeit viel gefallen lassen. Ihnen wird vorgeworfen, von der Regierung gesteuert zu werden und ohnehin sind Journalisten „links-grün-versiffte Gutmenschen“ oder „Bahnhofsklatscher“. Dabei wird gerne vergessen, dass Journalisten diesen Beruf gelernt haben und sich der Verantwortung bewusst sind. Kritische Berichterstattung wird trotzdem nicht akzeptiert, sondern abgewunken, weil es nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Jeder Fehler, der jedoch der Presse unterläuft, wird aufgebauscht und nicht sachlich diskutiert. Etwa auf der Facebook-Seite der Tagesschau hassen und hetzen die Nutzer in regelmäßig derbem Ton, gegen alles, was nicht passt. Die drei Ms der Postfaktischen: Merkel, „Migrationsströme“, Medien.
Stimmungsmache
Die Plattform des Hasses, die sozialen Medien, sind symptomatisch für die Veränderungen in der Welt. Die Rhetorik und Wortwahl mancher Nutzer macht sprachlos. Es ist das eine, eine Situation zu bemängeln. Kritik, Diskussion, Kontrolle – das sind alles Grundlagen für eine Demokratie. Aber wozu diese Verrohung der Sprache? Warum nicht ruhig, rational, respektvoll bleiben? Allzu oft, gerade wenn es um die Flüchtlingskrise geht, scheinen grundlegende Prinzipien und Werte missachtet zu werden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – im Internet mehren sich bedrohliche Sätze von Leuten, die das nicht verinnerlicht haben.
Auf die Spitze treibt das Ganze die neue US-Regierung unter Trump. Er vereint das Postfaktische, den Hass gegen die Medien und die respektlose Kommunikation in einem der mächtigsten Ämter der Welt. Es ist schwer zu begreifen, was da passiert: Der Multimillionär, mit seinem Stab aus weiteren Multimillionären, der sich gegen die Elite stellen und für „die einfachen Bürger“ einsetzen will – und man kauft es ihm ab. Jeden, der ihm widerspricht, beleidigt und diffamiert Trump. Hillary Clinton bezeichnet er als „geisteskranke Kriminelle“ und auf Twitter zieht er über Arnold Schwarzenegger her, weil er schlechtere Fernsehquoten einfährt als Trump zu seiner Zeit bei der Fernsehsendung „The Apprentice“. Menschen, die nicht wie er sind, diskriminiert er: Frauen, Behinderte, Moslems… Diese Respektlosigkeit, dieses Missachten von Werten – und dennoch wurde er gewählt.
Ein Abbau der Demokratie
Trumps Stab droht der Presse, wenn ihnen die Berichterstattung nicht passt. Dann erfinden sie sich „alternative Fakten“. Beraterin Conway zum Beispiel erfindet einen Terroranschlag, um das per Dekret durchgesetzte Einreiseverbot für Einwohner einiger Länder zu legitimieren. Eine Generalstaatsanwältin hält das für verfassungswidrig – und fliegt dafür für „Verrat“ aus dem Justizministerium. Ist das Demokratie? Ist das rational; gerecht? Es scheint, Trump ist ein Wegweiser für die nächsten Jahre.
Hat die Menschheit also ihren Verstand verloren? Entweder das oder ihr Gedächtnis. Erleben wir jetzt, wie sich die Demokratien, für die so hart gekämpft wurde, von innen zersetzen? Bleibt nur zu hoffen, dass die Vernunft bald wieder ihr Comeback erlebt.
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