Die Literatur hat einen schlechten Ruf. Wenn einem Bücher wie „Faust“, „Irrungen Wirrungen“ oder „Die Räuber“ in der Schule aufgezwungen werden, kann einem schon mal die Freude an der Literatur vergehen. Doch wie viel von der gefürchteten Literatur findet sich tatsächlich in diesem „literarischen“ Vortragswettbewerb?
Nach ein paar Besuchen beim heimischen Poetry Slam ließ ich mich kurzentschlossen dazu hinreißen, den Aufforderungen, aufzutreten, zu folgen und schrieb eine E-Mail an die Veranstalter. Ohne richtig begriffen zu haben, worauf ich mich eingelassen hatte, stand ich schon halb auf der Bühne.
Plötzlich war ich mittendrin. Neben mir traten echte Größen, wie etwa Wolf Hogekamp auf, der sogar als Urvater des Poetry Slams bezeichnet wird und einen Wikipedia Artikel vorzuweisen hat – das Maß allen Rums. Und dann, dann war da noch ich. Die Zuschauer blickten mich erwartend an, während ich mit dem Mikrofon kämpfte und alles außerhalb eines kleinen Kreises ausblendete – nur nicht ablenken lassen! Trotzdem konnte ich die Blicke aller spüren, wo doch sonst ich diejenige gewesen war, die dort gesessen hatte. Mir wurde heiß, als ich merkte, wie sehr meine Beine zitterten. Ob wohl jemand sehen konnte, dass mir der Zettel mit meinem Text fast aus der Hand fiel?
Was ist Poetry Slam?
Beim Poetry Slam treten Wortkünstler mit beliebigen Texten gegeneinander an. Diese Texte können von Lyrik zu Prosa reichen, manchmal sind sie witzig, manchmal bewegend. Häufig werden politische Themen behandelt, ab und zu schleicht sich auch mal kompletter Unsinn ein. Gerade durch solche Beiträge wird jedoch eines klar: Bei diesem Wettbewerb gibt es eine völlige Freiheit der Kreativität.
Die einzige Einschränkung ist die zeitliche: die Slammer dürfen für gewöhnlich nicht länger als fünf oder sechs Minuten sprechen. Dabei erfolgt das Feedback ganz direkt nicht nur durch Applaus oder reingerufene Kommentare des Publikums, sondern auch durch die Jury, die am Anfang frei aus dem Publikum gewählt wird und Punktetafeln von eins bis zehn erhält.
Wie viel Wettbewerb ist eigentlich dabei?
Durch diese Jury kann der gleiche Text bei jedem Publikum ganz unterschiedlich bewertet werden. Insgesamt entsteht so eine entspannte Atmosphäre ohne Leistungsdruck obwohl es ja eigentlich ein Wettbewerb ist.
Es wird auch immer wieder dazu aufgerufen, sich einmal selbst auf die Bühne zu wagen und aufzutreten. Dadurch sind nicht nur die Texte, sondern auch die auftretenden Menschen enorm Vielseitig.
Mein Selbstversuch
Meinen Text hatte ich bereits Wochen zuvor ausformuliert, er füllte nur zwei der möglichen sechs Minuten (falls ihn jemand lesen möchte: https://charlssblog.wordpress.com/2016/02/26/die-augenlos-lauschende-2/).
Trotz meiner übermäßigen Sorgen lief alles gut. Mir versagte nicht die Stimme, niemand sah mein Zittern oder buhte mich aus und mein Gang auf die Bühne war unscheinbar und ohne Stolperer à la Jennifer Lawrence bei den Oscarverleihungen. Nein, ich habe nicht gewonnen, aber es war eine unglaubliche Erfahrung. Auch wenn die Reaktionen der Jury auf meinen Text sehr gemischt ausfielen, ging ich mit dem Gedanken, dass manche doch tatsächlich gut fanden, was ich geschrieben hatte.
Würde ich es wieder tun?
Ja! Man beschäftigt sich mit der eigenen Kreativität, stärkt das Selbstbewusstsein und verlässt die Bühne mit dem Gefühl, einen großen Schritt getan zu haben.
Mit Literatur im eigentlichen Sinne hat Poetry Slam wenig zu tun. Diejenigen, die durch die Schule eine Abneigung gegen die Weltliteratur aufgebaut haben, müssen solche Veranstaltungen nicht fürchten. Euch kann ich also nur mitgeben: Sucht selbst einmal nach einem Poetry Slam in eurer Nähe. Auch als Zuschauer ist es bereits ein Erlebnis und garantiert eine Abwechslung zum normalen Ausgehen.
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