Am Donnerstag hat der ehemalige Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat 2013, Peer Steinbrück, einen Vortrag zum Wandel des politischen Systems in der Bonner Universität gehalten. Dabei nahm er vor allem junge Menschen in die Pflicht, analysierte aber auch den Misserfolg der großen Parteien bei der Bundestagswahl 2017.
Als er die Treppen zum Rednerpult hochgeht, merkt man ihm seine 71 Jahre ein wenig an. Peer Steinbrück geht nicht mehr so schnell und dynamisch wie er es noch vor ein paar Jahren tat, wenn man ihn bei öffentlichen Auftritten sah. Aber vielleicht hat diese Wirkung auch nur mit dem Unterschied zwischen Fernsehen und Realität zu tun. Am Donnerstag, dem 5. Juli, konnten Interessierte den SPD-Politiker rund zwei Stunden in der Bonner Universität erleben, organisiert hatte den Vortrag der Verein Deutscher Studenten zu Bonn (VDSt). „Das politische System im Wandel – Ein- und Ausblicke“ lautete das Thema. Nachdem gut eine Woche zuvor Sahra Wagenknecht zur Frage des Niedergangs von Volksparteien in Deutschland referiert hatte, sprach Steinbrück neben innerdeutschen auch intensiv über europäische und internationale Themen im Zusammenhang eines Systemwandels. Und appellierte ganz klar an die jungen Leute, sich für ihre politischen Vorstellungen einzusetzen.
„Dessen seien Sie sich bitte bewusst: Sie werden diesen Kontinent davor bewahren müssen, dass er sich selber marginalisiert“, sagte er mit ernstem Blick ins Publikum.
Das sei nicht nur Aufgabe der etablierten Politik, sondern aller Staatsbürger. Zuvor hatte er grob umrissen, wie sich das weltpolitische System international gewandelt hat. Es finde dabei seit „zwei, drei – wenn nicht vier Jahren“ eine Zäsur statt, die er an bestimmten Entwicklungen und Ereignissen festmachte: An der Außenpolitik Russlands, die zeige, dass sich die Hoffnung, eine bipolare Welt zwischen Ost und West zu überwinden, nicht bewahrheitet habe. An der Entwicklung hin zu sogenannten „Failed States“ und somit einer völligen Destabilisierung im Nahen Osten und Nordafrika. Und an der Veränderung der transatlantischen Beziehungen durch die Trump-Regierung und den Brexit. Er sprach außerdem von „autoritären Zügen“, die einige europäische Parteien und Regierungen angenommen hätten. Auch auf eine Distanz zur europäischen Gemeinschaft als weitere aktuelle Entwicklung verwies er: Neben Regierungen, die die EU mittlerweile nur noch primär als gemeinsamen Markt betrachteten, seien es auch Bürger, die sich abwenden würden:
„Beim breiten Publikum hat man den Eindruck, dass in Europa, in der Europäischen Union nur noch ein sehr technokratisches Gebilde gesehen wird, das viel zu krakenartig in die Zuständigkeiten der Länder eingreift.“
Warum man sich – dieser Logik folgend – als Deutscher dann eher um das eigene Land kümmern sollte. Er kritisierte das nicht, sondern stellte lediglich fest. Für Steinbrück aber lassen sich Fragen wie solche der inneren und äußeren Sicherheit, der Bekämpfung von Steuervermeidung, des Datenschutzes und nicht zuletzt des Klimawandels nur europäisch und nicht national lösen.
Mit diesem Plädoyer für Europa versuchte er dem überwiegend studentischen Publikum klar zu machen, dass sie sich für ein starkes Europa aktiv einsetzen müssten, wenn sie dieses erhalten wollten. Augenblicklich war spürbar, wie die Aufmerksamkeit in Hörsaal 1 stieg, wie Leute von ihren Notizblöcken oder Smartphones aufblickten und sich bei manch einem ein grüblerischer Ausdruck auf dem Gesicht ausbreitete. Steinbrück spielte dabei auch auf eine vermeintliche Abneigung junger Leute gegen große Parteien und Organisationen an und äußerte sogar Verständnis dafür, nur um dann deutlich zu machen, dass ein Engagement auf dieser Ebene trotzdem wichtig sei: „Was passiert eines Tages, wenn es nicht genügend Frauen und Männer gibt, die auf der kommunalen, auf der Landes- und auf der Bundesebene bereit sind im Rahmen demokratischer Parteien (…) Mandate anzustreben? Was heißt das für die demokratische Substanz?“ Nichts Gutes, wie er meint – die Demokratie könnte sich dann verabschieden. Sein Aufruf sei es daher, dass sich die Jungen für Demokratie und Europa stark machen sollen.
In seiner Forderung nach eigenem Engagement wirkte der SPD-Politiker aber nicht oberlehrerhaft, sondern eher, als sei ihm das ein großes Anliegen. „Wie können wir jungen Leute das der ganzen Bevölkerung klar machen? Wie können wir es schaffen, dass wir alle Teile der Gesellschaft mitnehmen?“, wollte ein Zuhörer in Bezug auf Europa wissen und sprach damit eine Frage an, die wohl vielen im Publikum unter den Nägeln brannte. Die Antwort war für den 71-Jährigen ganz klar: „Ich erwarte, dass Sie dort, wo Sie Debatten haben – in der Universität, in Ihren Ehrenämtern (…), in Ihrem beruflichen Umfeld, in Ihrem privaten Umfeld – schlicht und einfach denjenigen entgegentreten, die diesen antieuropäischen Reflex haben!“ Auch die Bewegung „Pulse of Europa“, die sich aktiv für die europäischen Werte einsetzt, geht für Steinbrück in die richtige Richtung.
In seinem Vortrag sprach der ehemalige SPD-Spitzenkandidat aber auch über die Probleme in Deutschland und wie die Parteien, allen voran SPD und CDU mit ihnen umgehen. Dabei hielt er sich auch nicht mit Kritik an der der SPD zurück, blieb aber sachlich.
Steinbrück ist dafür bekannt, auch in der eigenen Partei Kritik auszuteilen, so hatte er zu Beginn des Bundestagswahlkampfes 2017 öffentlich die Strategie der Partei bemängelt und auch in seinem kürzlich erschienen Buch „Das Elend der Sozialdemokratie“ analysiert er schonungslos vermeintliche Fehler und Probleme der Sozialdemokraten. An diesem Abend rollte er das Feld von hinten auf und sprach von den Verfehlungen der großen Parteien bei der Wahl im September: Der ehemalige Bundesfinanzminister ist der Meinung, dass es heute nicht mehr reiche, als Partei die Interessen der Arbeiter oder des Kapitals zu vertreten, denn die Menschen treibe auch anderes um. Er sprach von einem kulturellen Konflikt zwischen denjenigen, die Globalisierung, Digitalisierung und Migration als Chance begriffen und denen, die sich dadurch herausgefordert sähen. Seine Überzeugung: „Die Schlüsselwörter in diesem Wahlkampf lauteten nicht soziale Gerechtigkeit, sondern staatliche Handlungsfähigkeit. Ordnung.“ Weder Union noch SPD hätten diese Themen in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen gerückt. Damit setzt Steinbrück einen Kontrapunkt zu Sahra Wagenknecht, die den Stimmverlust der großen Parteien in einem mangelhaften Engagement für soziale Gerechtigkeit sieht.
Wie schon 2017 vertrat der Politiker in dem Kontext die Meinung, dass die SPD sich fast ausschließlich auf das Thema „soziale Gerechtigkeit“ konzentriert habe und das zudem viel zu unkonkret. Vor allem Sozialdemokraten, die aus Protest zur AfD gewechselt wären, seien aber Themen wie die innere Sicherheit und die Durchsetzung des Rechtsstaats wichtig. Deshalb müsse man sich am „Zeitgespräch der Gesellschaft“ orientieren und diese Themen adressieren – allerdings „ohne, dass die SPD jetzt plötzlich autoritäre Tendenzen entwickeln soll.“ Einige Gesichter im Publikum wirkten leicht verwirrt. Auch wenn hier nicht öffentlich nachgehakt wurde, dürfe sich doch der ein oder andere die Frage gestellt haben: Soll die SPD nach diesem Verständnis dann also etwas nach rechts rücken?
Eine Antwort darauf lässt sich in einem Interview finden, das Peer Steinbrück im März dem Stern gegeben hatte. Hier äußerte er sich ähnlich, machte aber klar, dass eine Verschiebung nach rechts nicht die Lösung sei: Stattdessen müssten die Sozialdemokraten eigene Antworten auf Themen wie kulturelle Identität, Heimat und Sicherheit finden, um einen Riss in der Gesellschaft zu verhindern. Der SPD-Politiker formulierte damit deutlich andere Lösungsansätze zur Überwindung der Krise seiner Partei als es die Linken-Politikerin Wagenknecht tat. Sie erkennt zwar auch die Migrationspolitik als einen Faktor für den Wählerwechsel an, sieht bei den großen Parteien CDU/CSU und SPD aber insbesondere einen „neoliberalen Kurs“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik als Auslöser.
Auch an diesem Abend beschäftigte die Zuhörer das sogenannte „Sommertheater“. Als die Eilmeldung den Hörsaal erreichte, Union und SPD hätten sich nun geeinigt, wollte ein junger Mann von dem Politiker wissen: „Ist es für die deutsche Demokratie wünschenswert, dass es jetzt einfach so weitergeht – nach diesem Vertrauensverlust innerhalb der Unionsparteien?“ Nach kurzem Überlegen sprach der 71-Jährige von einem „Nebengeschmack“, den diese Einigung habe, konstatierte aber: „Das ist besser, als wenn es keine Einigung gegeben hätte.“ Andernfalls wäre die SPD in den Umfragen hingerichtet worden, da schien er sich sicher und fügte hinzu: „Aber für den Rest der Legislaturperiode wird es stark darauf ankommen, dass die entscheidenden Themen vorangebracht werden.“ Andernfalls werde die große Koalition bei der nächsten Wahl noch stärker verlieren.
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