Frankreich im Wahlfieber: Bereits im April und Mai und nun zuletzt am vergangenen Wochenende schickte der französische Staat seine Bürger in die Wahllokale. Als wäre das nicht genug, stehen am 18. Juni schon die nächsten Wahlen in Frankreich an. Diesmal geben die Bürger ihre Stimme im 2. Wahlgang für die Parlamentswahlen ab. Für Macrons Reformpläne sind diese Wahlen entscheidend.
In anderen Jahren vernachlässigt, diesmal mit Spannung erwartet
Die Medien wurden nicht müde, es zu betonen: Von den diesjährigen Parlamentswahlen hängt der politische Kurs Frankreichs in den nächsten fünf Jahren ab. Ohne parlamentarische Mehrheiten kann Emmanuel Macrons Wahl zum französischen Präsidenten als noch so historisch gelten, viel verändern kann er in dem Fall aber nicht. Genau aus diesem Grund schenken die Franzosen der Wahl ihrer Nationalversammlung dieses Mal nahezu so viel Aufmerksamkeit wie den Präsidentschaftswahlen und mit ähnlich großem Interesse verfolgt das umliegende Ausland das Ereignis mit. Wird Macrons frischgebackene Partei die Gunst der Wähler erlangen? Und: Wie wählen die Franzosen ihr neues Parlament?
The winner takes it all
Wie schon bei den Präsidentschaftswahlen müssen die Franzosen auch für diese Wahl insgesamt zweimal den Weg zur Urne gehen, denn das französische Wahlrecht sieht vor, dass nur Kandidaten im 1. Wahlgang gewählt sind, die eine absolute Stimmenmehrheit (+50 Prozent aller Wahlberechtigten) in einem Wahlkreis erlangen konnten. Das ist selten der Fall, so auch in diesem Jahr: nach dem ersten Wahlgang stehen nur in vier aller Wahlkreise bereits die Abgeordneten fest. Die Kandidaten, die die Stimmen von mindestens 12,5 Prozent aller Wahlberechtigten in ihrem Gebiet erhalten, dürfen am zweiten Wahlgang am 18. Juni teilnehmen. Insgesamt gibt es 577 Wahlkreise und ebenso viele zu vergebende Abgeordnetenplätze – es kann also nur ein Kandidat pro Wahlkreis ins Parlament einziehen. Es gilt also das aus den USA bekannte „the winner takes it all“-Prinzip. Mit 289 Sitzen erreicht eine Partei die absolute Mehrheit. In der zweiten Runde ist es dann üblich, dass politisch verbündete Parteien nur einen Kandidaten ins Rennen schicken, um seine Chancen auf den Sieg zu erhöhen. Bündnisse sind deshalb von großer Bedeutung.
Mehr Konkurrenz und ein bunteres Parlament
In diesem Jahr ist vieles anders, als es die Franzosen gewohnt sind: Nachdem der unabhängige Macron mit seiner Wahl zum Präsidenten das traditionelle Lagersystem von Republikanern und Sozialisten in Frankreich aufgebrochen hat, hält der Wandel an. Nun stehen sich vor allem vier Parteien mit ähnlich hohem Zulauf gegenüber: seine Bewegung, die im Mai in die offizielle Partei „La République En Marche“ (LREM) überführt wurde, die linke Partei des Sozialisten Jean-Luc Mélenchon, der rechte „Front National“ und die konservative Partei „Les Républicains“. Experten sprechen daher von einem vielfältigeren und „bunteren“ Parlament nach der Wahl. Um größere Mehrheiten zu erlangen, haben einige der vertretenen Parteien zudem Allianzen geschmiedet: Macrons „En Marche“ bildet ein Bündnis mit der liberalen Zentrumspartei „Mouvement démocrate“ (MoDem), ähnlich halten es die Republikaner in einem Parteienbündnis mit kleineren gleichgesinnten Gruppierungen. Die Traditionspartei der Sozialisten, die bei den Präsidentschaftswahlen unter sechs Prozent fiel, hat sich sogar mit drei anderen Formationen aus dem linken und grünen Spektrum zusammengetan. Für sie sieht es nach dem 1. Wahlgang nicht gut aus: Ihr Bündnis überzegte gerade einmal etwas mehr als neun Prozent aller Wähler.
Es werden viele Plätze für neue Politiker frei, denn rund ein Drittel der derzeitigen Abgeordneten lässt sich in diesem Jahr nicht mehr aufstellen. Macrons Partei könnte das zu Gute kommen. Sie ist mit mehr als 400 Kandidaten vertreten, viele davon kommen nicht aus der Politik und sind noch sehr jung. Unter ihnen haben einige für das politische Engagement glatt den Job an den Nagel gehangen.
Nach dem 1. Wahlgang: Triumph oder Pleite für Macron?
Gab es kurz nach den Präsidentschaftswahlen Anfang Mai noch viel Skepsis darüber, ob es dem neuen Präsidenten gelingen würde, seine Bewegung in knapp einem Monat zu einer handlungsfähigen Partei umzubauen und im Land großflächig Kandidaten aufzustellen, so scheinen diese Zweifel nun ausgeräumt. Nach dem ersten Wahlgang hat sein Bündnis mit 32,3 Prozent mit großem Abstand die meisten Stimmen erhalten und in zwei Wahlkreisen ein Direktmandat bekommen. Laut dem französischen Innenministerium kann Macron mit 400 – 455 Sitzen in der Nationalversammlung rechnen. Die Allianz der Republikaner & Co. konnte rund 21 Prozent der Wähler überzeugen und dürfte kommenden Sonntag vermutlich 70 bis 130 Mandate erhalten. Der „Front National“ kam im 1. Wahlgang auf 13,2 Prozent – laut der Parteispitze ein enttäuschendes Ergebnis. Wegen des Mehrheitswahlrechts wird die Partei aber wohl maximal 10 Sitze erringen können. Mélenchons Partei „La France Insoumise“ gaben 11 Prozent ihre Stimme. Die Auslandsfranzosen tragen den Landestrend in Teilen mit: Sie haben sich im 1. Wahlgang laut der französischen Botschaft zu mehr als 50 Prozent für den Kandidaten von LREM entschieden. Er steht in der 2. Runde dem zweitstärksten, sozialistischen Bewerber (ca. 13 Prozent) gegenüber.
Die französische Journalistin Anne Mailliet sagte gegenüber dem Sender phoenix kürzlich, viele der LREM-Wähler entschieden sich “aus Vernunft” für Macrons Partei, damit er nun seine angekündigten Reformen umsetzen könne. Das Interesse der Franzosen scheint aber dieses Mal vor allem im Beobachten der Wahl zu liegen, so gaben in der 1. Runde vergangene Woche weniger als 50 Prozent ihre Stimme ab.
Parlament kann den Reformer handlungsunfähig machen
Mittlerweile hat es auch der letzte Baum im Wald verstanden: Parlamentarische Mehrheiten sind extrem wichtig für Emmanuel Macron. Aber warum ist das eigentlich so? Gewählt wurde er ja bereits. Der Grund für die große Bedeutung der Parlamentsmehrheiten ist das semipräsidentielle System der 5. Republik. Der französische Präsident hat im Allgemeinen eine sehr machtvolle Position und ernennt den Premierminister sowie alle anderen Minister seines Kabinetts. Nichtsdestotrotz ist er stark vom Parlament abhängig, so kann er seinen Premier nur aus den Reihen der parlamentarischen Mehrheit wählen, weil dieser mit einem Misstrauensvotum vom Parlament gestürzt werden kann. Auch bei der Auswahl seiner MinisterInnen ist er entsprechend eingeschränkt: Der Premier schlägt Personen für die Ämter vor. Auch er muss sich hierbei an der Sitzverteilung orientieren, um das Parlament hinter sich zu wissen. Durch dieses System kam es in der Vergangenheit bereits zur sogenannten „Cohabitacion“, bei der Premierminister und Präsident aus unterschiedlichen Lagern stammen. Die Situation führt oft dazu, dass sich Präsident und Parlament gegenseitig blockieren und ein effektiver Politikbetrieb so erschwert wird. Denn es ist das Parlament, das die Gesetze macht, nicht der Präsident. Für Macron, der weitreichende und zum Teil umstrittene Reformen anstrebt, wäre diese Konstruktion sehr hinderlich. Nach dem 1. Wahlgang kann er der 2. Wahlrunde aber gelassen entgegenblicken, da sein Bündnis vermutlich die mit Abstand größte Mehrheit bekommen wird. Eine solche Konstellation bliebe ihm dann erspart.
Was wäre, wenn …? Entwicklungen seit Macrons Amtsantritt
Was wäre, wenn es Macrons Parteienbündnis am Sonntag also tatsächlich gelingen sollte, die begehrten Mehrheiten zu erhalten? Was sind seine konkreten Pläne für Frankreich? Im Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen kündigte der als sozial- und wirtschaftsliberal geltende Franzose an, mehr Jobs schaffen, die öffentlichen Ausgaben verringern und das europäische Projekt um einen Euro-Finanzminister erweitern zu wollen. Unter anderem sollen die Inlandsprojekte durch Einsparungen im öffentlichen Dienst und Senkungen von Sozialabgaben finanziert werden. Sein dringlichstes und umstrittenstes Vorhaben aber ist die sogenannte „Arbeitsreform“: Macron will das Arbeitsrecht lockern und Arbeitergebern mehr Flexibilität einräumen – so sollen diese dazu bewegt werden, mehr Personen einzustellen. Im rebellischen Frankreich haben ähnliche Vorhaben unter Ex-Präsident Hollande zu großen Protesten und Streiks geführt. Doch eins ist klar: Sollte Macron die notwendige Handhabe erhalten, wird unter ihm ein anderer Wind wehen. Er kündigte bereits an, die Reform zur Not mit einer Verordnung durchzusetzen – in diesem Fall hätte das Parlament weniger Mitbestimmungsrechte. Es könnte das Vorhaben nur noch durch ein Veto verhindern, nicht aber konkret mitgestalten.
Auch Macrons aktuelle Regierung, die er am 17. Mai vorstellte, deutet daraufhin, dass es ihm ernst ist mit Erneuerungen im politischen System. Was im Lagerdenken von Republikanern und Sozialisten unmöglich schien, ist nun Realität: Sein derzeitiges (Übergangs)kabinett ist zusammengesetzt aus Politikern beider Parteien sowie parteilosen Mitgliedern. Außerdem ist die Hälfte seiner MinisterInnen neu in der Politik. Es ist also einiges in Bewegung. Eines seiner Wahlversprechen ist bisher aber eine Illusion geblieben: Der Jungpräsident, der sich während des Wahlkampfes so heftig gegen die elitären Strukturen aussprach, hat seine Regierung ausnahmslos mit Mitgliedern der eigenen Gesellschaftsschicht besetzt. Sie sind Spitzensportler, leiten private Hochschulen oder sitzen in Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften. Diese Menschen haben auf den ersten Blick nicht viele Gemeinsamkeiten mit dem französischen Durchschnittsbürger. Wird es Emmanuel Macron gelingen, die gesellschaftliche Kluft zwischen der Elite und der breiten Bevölkerung zu schließen? Vor seiner Wahl zum Präsidenten versprach er, das Land zu versöhnen. Und: Wird er es in Zukunft schaffen, seine angekündigten Pläne in die Tat umzusetzen? Das Ergebnis der Parlamentswahlen wird einen großen Anteil daran haben, ob diese Vorhaben gelingen können. Nach dem 1. Wahlgang sieht es aber so, als könnte zumindest letzteres klappen.
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