„Es muss ja niemand auf der Straße leben. Da ist man doch selbst dran schuld“, lauten häufige Vorurteile. Was sagt das Rechtssystem in Deutschland dazu? Und wenn niemand auf der Straße leben muss, warum tun es dann doch so viele?
In Deutschland gibt es rund 50.000 Obdachlose. Doch was bedeutet das eigentlich? Hat man keine Wohnung, ist man nicht gleich obdachlos, sondern galt nach dem Gesetz erst einmal als „wohnungslos“. Durch das soziale Umfeld und die Familie findet man in Notfällen meist vorübergehend ein Dach über dem Kopf. Man muss also nicht auf der Straße leben. Erst wenn dies nicht möglich ist und man auch nicht in einer Notunterkunft übernachten kann, wird man obdachlos. Leider passiert dies schneller, als man denkt und die Wenigsten, die auf der Straße leben, tun dies freiwillig aus der Überzeugung, kein gesellschaftliches Leben führen zu wollen und alle Freiheiten ohne Verpflichtungen zu haben.
Arbeitslosigkeit und psychische Erkrankungen als Auslöser
Obdachlosigkeit wird oft durch mehrere ungünstige Faktoren ausgelöst oder durch einen Schicksalsschlag, der einen von heute auf morgen den Boden unter den Füßen wegreißt. Zwei immer wieder auftretende Faktoren sind dabei Arbeit und psychische Erkrankungen. Insbesondere bei psychischen Erkrankungen muss nicht einmal eine schwerwiegende Diagnose vorliegen, sondern meist reicht ein tiefgreifendes Ereignis, wie zum Beispiel eine Trennung oder auch der Verlust des Arbeitsplatzes. Das kann schnell dazu führen, dass Menschen in einen Abwärtsstrudel geraten, da Arbeitslosigkeit und psychische Erkrankungen sich oft gegenseitig generieren.
Psychisches Leiden sorgt oft für den Verlust des Arbeitsplatzes oder der Verlust des Arbeitsplatzes führt zu psychischen Leiden. Menschen mit geringem Einkommen wenden durchschnittlich 70 Prozent für die Miete auf. Schnell bedeutet dies bei Arbeitslosigkeit, dass man sich die Wohnung nicht mehr leisten kann. Natürlich gibt es staatliche Unterstützungen, aber die Pauschale für die Wohnung ist gedeckelt. Das bedeutet, dass man nur einen bestimmten Zuschuss für die Miete erhält – unabhängig davon, wie hoch die Kosten für die Unterkunft tatsächlich sind – was meist einen Umzug erzwingt. Insbesondere in urbanen Räumen, also in den großen Städten, ist der Wohnungsmarkt knapp. Auch Sozialwohnungen sind sehr gefragt und meist nicht verfügbar.
Ohne Arbeit also keine Wohnung und ohne Wohnung keine Arbeit. Menschen, die noch in der Lage sind, sich Hilfe zu holen, können an diesem Punkt noch eine Lösung finden. Doch meist ist man zur Selbsthilfe nicht mehr fähig. Die Kommunikation mit Behörden kann schon für gesunde Menschen eine Herausforderung darstellen. Menschen mit psychischem Leiden sind oft nicht mehr fähig, sich selbst aus dieser Krise zu befreien.
Öffentliche Angebote stellen große Hürden dar
Niedrigschwellige Angebote gibt es und auch Notschlafstellen und Unterkünfte sind vorhanden. Aber auch hier stoßen die Menschen an ihre Grenzen. Oft gibt es aus nachvollziehbaren Gründen, Alkoholverbote in diesen Einrichtungen. Hunde sind nicht erlaubt und man verpflichtet sich, Termine wahrzunehmen und Eigeninitiative zu zeigen. Objektiv betrachtet, scheinen diese Voraussetzungen keine große Hürde darzustellen, wenn man bedenkt, dass die Menschen sich in einer absoluten Notlage befinden.
Allerdings darf man diese Situation nicht am eigenen Maßstab messen, sondern muss berücksichtigen, dass psychisch kranke Menschen nicht in der Lage sind, ihre Situation rational zu bewerten. Das führt meist dazu, dass selbst diese niedrigschwelligen Angebote nicht wahrgenommen werden. Dazu kommt, dass das Angebot den Menschen zwar kurzfristig hilft und insbesondere die Versorgung mit Nahrungsmitteln sowie Schutz vor kalten Nächten sicherstellt, die Obdachlosigkeit der Menschen langfristig aber nicht beendet.
Ist man erst einmal auf der Straße, kommt man so schnell auch nicht von ihr weg. Der Kontakt zu Ämtern ist von der Straße aus und ohne Unterstützung eigentlich kaum möglich. Um finanzielle Unterstützung vom Staat zu bekommen, benötigt man eine Anschrift, an die man regelmäßig Post empfangen kann. Außerdem wird eine Telefonnummer verlangt. Menschen ohne Obdach besitzen meist beides nicht.
So einfach und so wirksam: Paradebeispiel Finnland „Housing first“
Finnland konnte die Zahlen der Obdachlosigkeit stark reduzieren und berichtet, dass die Obdachlosigkeit bei vier von fünf Personen, die am Projekt teilnahmen, langfristig beendet werden konnte. „Housing first“ verfolgt das Prinzip, jedem Obdachlosen bedingungslos eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Die Wohnung kommt zuallererst, alles andere folge an späterer Stelle. Eine Wohnung solle nicht das Ziel sein, dass zum Beispiel Sozialarbeiter verfolgen, sondern der Ausgangspunkt, um die Zusammenarbeit mit den einzelnen Personen überhaupt zu beginnen.
Gleichzeit bekommen Menschen Unterstützung, insbesondere auch, um ihren Alkohol und Drogenkonsum in den Griff zu bekommen. Dies sei allerdings keine Voraussetzung, sondern lediglich ein zusätzliches Hilfsangebot. Die Wohnung sorge dafür, dass Personen überhaupt in der Lage seien, sich um Gesundheit, Beruf und finanzielle Sicherung zu kümmern. Leben die Personen auf der Straße, sei es für sie kaum möglich, eine Perspektive zu schaffen und sie zu motivieren, etwas in Angriff zu nehmen.
Der erstaunliche finanzielle Aspekt von „Housing first“
Meist gibt es Lösungsansätze für bestehende Probleme, die allerdings aus finanzieller Sicht oft nicht umsetzbar sind oder sich schlichtweg nicht lohnen. Das Projekt „Housing first“ hat gezeigt, dass der finanzielle Aufwand wesentlich geringer ist, wenn man den Menschen durch das Bereitstellen einer Wohnung eine Perspektive schafft, als wenn man jahrelang Sozialarbeit auf der Straße leistet, welche aber so gut wie nie das eigentliche Problem löst. Außerdem entstehen durch Obdachlosigkeit auch vermehrt Kosten im Bereich Polizei, Gesundheits- und Justizsystem. So wurde festgestellt, dass man pro Obdachlosem rund 15.000 Euro weniger im Jahr ausgibt.
Hinter jedem Menschen steckt eine Geschichte
Es ist also doch nicht so einfach zu sagen, dass Menschen, die auf der Straße leben, selbst daran Schuld sind und in jedem Fall eine Alternative hätten. Diese Menschen brauchen besondere Unterstützung, die unsere Gesellschaft leider meist nicht leisten kann. Umso schöner ist es, dass es Beispiele aus anderen Ländern gibt, die zeigen, dass Menschen auf der Straße nicht hoffnungslos aufgegeben werden müssen. Hinter jedem Menschen steckt eine Geschichte, die objektiv nicht greifbar ist. Das sollte man sich immer bewusst machen.
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