Lohngerechtigkeit ist ein sozialethischer Prüfstein für die deutsche Arbeitsgesellschaft. Diese leistet sich seit der Regierung Schröder einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. Die Ungleichheit der Einkommen wächst und trotz Mindestlohn reicht bei vielen ein Vollzeitlohn nicht zum leben. Was tun?
„Wer dem Arbeiter seinen Lohn nicht gibt, der ist ein Bluthund“, heißt es schon im Alten Testament. Das Thema Lohngerechtigkeit ist aber auch im Deutschland des Jahres 2018 brandaktuell. Angeheizt wurde es zuletzt von der Hartz-IV-Debatte, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) losgetreten hatte. Wer arbeitet, soll mehr haben als jemand, der nicht arbeitet, wird seither wieder zurecht gefordert. Aber besser nicht durch noch geringeres Arbeitslosengeld II, sondern durch höhere Erwerbslöhne.
Janusköpfige Hartz-Reformen
„Hartz IV“ ist das bekannteste Schlagwort der „Agenda 2010“, dem vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) durchgeführten Reformpaket für Sozialstaat und Arbeitsmarkt. Nicht nur, dass durch die darin eingebetteten Hartz-Reformen die frühere Sozial- und Arbeitslosenhilfe auf dem niedrigeren Niveau der Sozialhilfe zum heutigen Arbeitslosengeld II zusammengestampft wurde, es entstand auch einer der größten Niedriglohnsektoren Europas. Nach Meinung Gerhard Schröders ein Erfolg. Und tatsächlich haben diese Reformen teilweise dazu beigetragen, dass sich Deutschland vom „kranken Mann Europas“ zu dem Streberling unter den EU-Staaten entwickelte, der die Herausforderungen durch die Finanz- und Eurokrise mit am besten bewältigen konnte.
Trotz der offensichtlichen Teilerfolge dieser Reformpolitik, etwa auch was den Abbau der Arbeitslosigkeit angeht, ist sie bis heute zurecht umstritten. Grund ist nicht nur Hartz IV. Grund ist auch besagter Niedriglohnsektor, in dem nicht wenige Menschen arbeiten, die als sogenannte Aufstocker ergänzend auf Hartz IV angewiesen sind. Ihr Einkommen auf Mindestlohnniveau reicht auch bei Vollzeiterwerb nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts aus, die später daraus resultierende Armutsrente ebenso wenig.
Lohngerechtigkeit – seit biblischen Zeiten Thema
Die Frage nach dem gerechten Lohn ist der Lackmustest der modernen Arbeitsgesellschaft. Um erneut auf die Bibel zurückzukommen: Lohngerechtigkeit war für die Menschen auch damals schon so zentral, dass ein Vorenthalten des gerechten Lohns zu den himmelschreienden Sünden (vgl. Jak 5,4) gezählt wurde.
Im 19. Jahrhundert, der Zeit der Industrialisierung und des Massenelends der Industriearbeiter, machte dann auch der damalige Papst Leo XIII. das Prinzip der Lohngerechtigkeit stark. Er schrieb in Rerum Novarum, der ersten Sozialenzyklika der katholischen Kirche: „Wenn also auch immerhin die Vereinbarung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei geschieht, so bleibt dennoch eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit bestehen, die nämlich, daß der Lohn nicht etwa so niedrig sei, daß er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft.“ Papst Johannes Paul II. nannte die Lohngerechtigkeit später sogar das Schlüsselproblem der Sozialethik.
Zwischen Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit
Man muss aber beileibe nicht katholisch sein, um hier mitgehen zu können. Die Güter der Erde sollen im Idealfall allen Menschen zugänglich sein und zugute kommen. Der Arbeitslohn ist derart wichtig, weil er für die meisten Menschen der einzige Weg ist, um am Güterangebot teilhaben und ihre materielle Existenz selbstständig sichern zu können. Wie gerecht Deutschland ist, entscheidet sich demnach in hervorgehobener Weise an gerechten Entgelten für Erwerbsarbeit. Der arbeitende Mensch sollte durch sein Einkommen für sich selbst und gegebenenfalls auch für seine Familie ohne staatliche oder andere Hilfen sorgen können.
Ein zweiter Aspekt ist, dass gemäß dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit die erbrachte Arbeitsleistung proportionale Entlohnung verdient und diese in ein entsprechend faires Verhältnis zur Entlohnung anderer, die vergleichbare Arbeitsleistungen erbringen, stehen sollte. Hier drängt sich das nach wie vor ungelöste Problem des Gender Wage Gap, der ungleichen Entlohnung von Frauen und Männern bei gleicher Tätigkeit, auf.
Wie viel Spreizung ist noch anständig?
Leistung muss sich natürlich lohnen, weshalb Einkommen also leistungsgerecht und per se ungleich ausgestaltet sein müssen. Die Frage ist nur, wie groß diese an sich legitime Einkommensspreizung ausfallen darf. Entsprechen etwa exorbitante Gehälter und Boni bei Managern und Konzernleitern noch der Anständigkeit und Verhältnismäßigkeit? Zurecht wird dies immer wieder diskutiert, wenn auch mitunter in populistischer Manier.
Zumal in diesen Fällen meist auch ein genuin marktwirtschaftliches Gerechtigkeitselement gänzlich fehlt: Das Prinzip der Haftung für Versagen und verantwortungslose Entscheidungen, wie es sich besonders drastisch in der Bankenbranche während der Finanzkrise zeigte. Hier haben die maßgeblichen Entscheidungsträger zwar lange von den Gewinnen profitiert, nicht aber für die negativen Folgen ihrer Entscheidungen die Zeche zahlen müssen. Dies übernahm der Steuerzahler. Wenn man zu steigenden Spitzengehältern und Boni-Zahlungen der großen Konzerne den in Deutschland vergleichsweise großen Niedriglohnsektor in Beziehung setzt, scheint es um die besagte Verhältnismäßigkeit und um eine soziale Balance hierzulande nicht gut bestellt.
Mindestlohn: gerne mehr
Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 war daher notwendig und längst überfällig, um die Menschen vor allzu skandalösen Dumpinglöhnen zu schützen. Es darf zwar nicht aus dem Blick geraten, dass Lohngerechtigkeit nicht nur das Existenzminimum des Einzelnen als absolute Untergrenze, sondern auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers als Obergrenze umfassen muss. Ist bei Letzterem aber noch sehr viel Luft nach oben, sollten bessere Entgelte höher gewertet werden als die Maxime der Wettbewerbsfähigkeit von Löhnen sowie übergebührliches Streben nach Flexibilität und Kostensenkungen aufseiten der Arbeitgeber. Es ist nämlich nicht nur der Sozialismus, sondern auch die christliche Soziallehre und -ethik, die betonen, dass die Arbeit des Menschen Wert und Würde hat und daher wichtiger ist als das Kapital.
Der gesetzliche Mindestlohn ist der richtige Ansatz; doch ist immer wieder neu zu prüfen, inwiefern seine Höhe der Würde menschlicher Arbeit entspricht und für die Deckung eines angemessenen Lebensbedarfs im Erwerbsleben wie im späteren Ruhestand ausreicht. Die aktuelle Höhe von 8,84 Euro pro Stunde führt bei einer 40-Stunden-Woche zu einem Bruttolohn von etwa 1.530,00 Euro. Dies ist angesichts steigender Mieten und Lebenshaltungskosten und besonders, wenn man eine Familie damit unterhalten möchte, zu niedrig – von den daraus resultierenden zu geringen Rentenansprüchen ganz zu schweigen. Klar ist es schwierig, einen gerechten (Mindest-)Lohn exakt zu beziffern. Der deutsche Mindestlohn ist aber zumindest im Vergleich zu anderen EU-Staaten noch relativ niedrig, während die deutsche Wirtschaft seit Jahren boomt. Daher ist Spielraum gegeben, zumal die „Jobkiller“-Prognosen von manchen Ökonomen und der Arbeitgeberlobby schon bei der Einführung des Mindestlohns nur Nebelkerzen waren.
Trotzdem sollte eine Mindestlohnerhöhung immer maßvoll geschehen, damit die steigenden Lohnkosten insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen handhabbar bleiben. Daher bleibt zu hoffen, dass sich die zuständige Mindestlohnkommission für die nächste Erhöhungsrunde 2019 zu einer beherzteren und dennoch behutsamen Steigerung, beispielsweise auf wenigstens 10,00 Euro je Stunde, durchringen kann. So könnte die Anzahl derjenigen zumindest etwas gesenkt werden, die ihren (Vollzeit-)Erwerbslohn mit Arbeitslosengeld II aufstocken müssen. Das würde wiederum entlastend auf den staatlichen Sozialetat wirken, der schlechte Löhne durch ergänzende Sozialleistungen letztlich subventioniert. Es sollen aber Prognosen zufolge ab 2019 wohl nur 9,19 Euro werden.
Nicht ohne Ethos
Der Mindestlohn allein reicht allerdings auch nicht, um das Ideal der Lohngerechtigkeit anzuvisieren. Völlig erreicht werden kann es ohnehin nie, denn jeder wird eine gerechte Lohnhöhe anders definieren. Trotzdem sollte insbesondere seitens der Arbeitgeber und der Politik immer wieder geschaut werden, wo Entgelte zumindest gerechter zu gestalten sind.
Gesetzliche Regelungen sollten in einer Marktwirtschaft letztlich aber nur die zweite Wahl sein. Es geht daher nicht ohne Ethik. Lohngerechtigkeit gibt es nicht ohne ein soziales Ethos aufseiten der Unternehmer und Arbeitgeber. Diese sollten sich ihrer hohen Verantwortung gegenüber ihren Beschäftigten bewusst sein, wollen sie keine Bluthunde sein.
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