„Sprecht miteinander, bevor es zu spät ist!“ Diesen Tipp bekommt man immer wieder. Doch was ist, wenn die Sprachlosigkeit auch zu Lebzeiten kein Gespräch zulässt. Was, wenn ein Schmerz keine Worte findet? Was, wenn eine Generation schweigen muss? Ein offener Brief an meine Großmutter.
Ein gezwungenes Aufeinandertreffen
Wie ein dunkler Schleier hängt da etwas zwischen uns. Unsere Worte wirken aus dem Mund gepresst, die Hände verkrampft und die fragenden Blicken runden unser Zusammentreffen ab. Du sitzt auf dem braun-gepunkteten Sofa aus den 60-igern. Deine Beine liegen auf einem kleinen Beistelltisch und ich weiß nicht, ob ich mich setzen oder deine Wohnung wieder verlassen soll. Du wolltest nie ins Altenheim ziehen, nun wohnst du hier. Du hast dein Haus mit Garten immer ordentlich und sauber gehalten, weil du nach deinem Ableben kein Chaos der Nachwelt hinterlassen wolltest. Leider konntest du dort nach einem Schlaganfall nicht mehr allein bleiben. Bei deinen Kindern kannst du nicht unterkommen. Es liegt zu viel Spannung in der Luft.
Du deutest an, dass die von mir mitgebrachten Bananen zu lang und schon zu reif wären. Du sprichst über deine Sorgen, keine Kraft mehr zu haben: Die Beine sind müde, das Atmen fällt dir schwer und den Tag musst du noch überstehen. Dich besucht keiner. Ich spüre, wie sich meine Kehle zuschnürt, mein Körper erstarrt und ich unterdrücke meine Wut. „Es ist nie richtig, so wie ich es mache“, rumort es in mir. „Nächste Woche muss ich zum Friseur“, so unterbrichst du meinen schweren Gedankennebel. Eigentlich will ich nur weg. Aber es ist auch wichtig, einen Besuch zu machen und Interesse zu zeigen. Geduldig höre ich weiter zu und verabschiede mich irgendwann.
Zwischen Abenteuerlust und innerem Gefängnis
Gedankenverloren streife ich durch die Wälder und sinne über diesen Besuch nach. Ich kenne dich als warmherzige Frau. Meine Ferienzeit in der Kindheit habe ich größtenteils bei dir verbracht. Auch wenn die Ereignisse mit dir zum Teil schon so weit zurückliegen, kommt es mir so vor, als wären sie erst gestern passiert. Du hast so lecker gekocht und ich habe dich als interessante Frau bewundert. Ich musste immer lachen, wenn du nach dem Abendessen das Radio angeschaltet und jongliert hast. Irgendwann hast du deine Trompete herausgezogen und Melodien auf der Kassette mitgespielt.
Wir haben zweistimmig Blockflöte gespielt, uns gegenseitig beim Memory-Spielen abgezogen und sind beim fast täglichen Schwimmbadbesuch unsere Bahnen geschwommen. Singend saß ich auf der Toilette mit dem Schlager: „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad.“ Nur manchmal bemerkte ich diesen schweren, hauchdünnen, schwarzen Schleier durch unsere gemeinsame Zeit streifen. Du erzähltest mir, dass dein Mann immer das Klo vollpinkelte und es danach nicht sauber machte. Er meinte zu dir, dass andere Kriegswitwen froh wären, wenn sie so eine Toilette putzen dürften. So hast du immer deine Arbeit fortgesetzt und hast geschwiegen – bis heute.
Unsere gemeinsame Schatzkiste
Wenn ich an dich denke, kommen mir unmittelbar die Psalmen aus der Bibel in den Sinn. Du hast sie auswendig gelernt und immer wieder rezitiert. Sie waren dein innerer Schatz, den du strengstens gehütet hast. Manchmal hast du mir Bibelverse geschenkt, die ich auch bewahrt habe und mir ein Kleinod sind. Mit dir pflückte ich Heidelbeeren, genoss leckeres Apfelmus mit Zimt und löste Sudokus. Ich las dir in meinen Kindheitstagen Zeitungsanzeigen vor „Sie sucht ihn“ und wir lachten uns schlapp.
Ich staunte über deinen zeitlich getakteten Tagesablauf mit den immer wieder kehrenden Handlungen und Gewohnheiten. Am Morgen trankst du deinen Pfefferminztee, den du nicht vergessen durftest. Das sagtest du mir immer wieder. Du musstest dir immer wieder deine Welt erklären. Du suchtest nach Antworten auf deine Leiden. Oft warst du froh, einen Grund dafür gefunden zu haben. Verstanden habe ich das nie. Dir aber hat es vermutlich Sicherheit gegeben. So konntest du den nächsten Schritt gehen.
Einzelne Bruchstücke ohne Sinn?!
Einmal verließ ich das Haus, um dir Blumen zu pflücken und dich damit zu überraschen. Du warst außer dir und konntest dich kaum beruhigen. Noch Tage später lag die Anspannung in der Luft. Es sind immer wieder diese Momente, die ich nicht verstehe. Sie sind wie einzelne Puzzlestücke, aber ich sehe nicht das große Ganze. Du warfst mir einzelne Erklärungen zu. So musstest du als Kind immer Bote sein und von A nach B laufen, um Nachrichten zwischen Erwachsenen zu übermitteln.
Heute würde man sagen, du warst damals ein „mobiles Telefon“. Später musstest du in einer Baumschule arbeiten. Du berichtetest, dass du heute noch schnell die Oberschenken zusammenpressen würdest, bei dem Gedanken, ein Haufen nasser Zweige in den Schoß geworfen zu bekommen. Und dann gab es da noch einige Schmerzen in deinem Leben, wofür du keine Worte finden konntest. Sie verweilten in dir und schienen, tief vergraben zu sein.
Die letzte Möglichkeit, zu sprechen
Eines Tages kommt plötzlich ein Anruf, dass du im Sterben liegst. Du entscheidest dich gegen einen Krankenhausaufenthalt. Stattdessen bekommst du ein starkes Schmerzmittel und stirbst langsam im Nebel, ohne etwas sagen zu können. So komme ich mit meinem letzten Besuch zu spät. Ich betrete eine leere, schon halb ausgeräumte Wohnung. Dein Pflegebett ist leer. Ich darf deinen Kleiderschrank durchsuchen und mir ein paar Kleidungsstücke aussuchen, die mir gefallen und mich an dich erinnern. Ich habe dich immer geliebt und habe mich gefreut zu hören, dass du nun endlich Erlösung gefunden hast.
Ich bin stolz auf dich, dass du es geschafft hast, dein Leben zu Ende zu leben, auch wenn es dir immer schwerer fiel. Lange habe ich geglaubt, deinen Schmerz kennen zu müssen, um selbst frei zu werden. Wie viele Therapien habe ich hinter mir, wie viele körperliche Schmerzen habe ich erlebt und sie nicht einordnen können. Wie viele Parallelen habe ich zwischen uns gesehen. Ich habe von dir keine Antwort bekommen. Aber das macht nichts, weil ich selbst losgezogen bin und meinen Schmerz verarbeite.
Weißt du was? Unsere Krankheit hat sogar einen Namen. Ein Arzt hat ihn mir verraten. Es ist eine Erbkrankheit. Wie hättest du gelebt, wenn du gewusst hättest, dass deine Leiden wirklich einen medizinischen Grund haben? Hättest du weniger an dir und deiner Wahrnehmung gezweifelt? Hätte man dich ernster genommen? Ja, und dann schlummert aber noch ein seelisches Leiden in uns. Vermutlich finden wir beide keine Worte dafür und möglicherweise wird es für immer ein Geheimnis bleiben.
Du gehst – ich bleibe
Vielleicht ist es gerade die Leidenschaft, die uns verbindet. Eine Leidenschaft, zu leben, aber auch zu leiden. Vielleicht finde ich irgendwann die Worte für diesen einstigen, seelischen Schmerz, sodass er ausgesprochen und geheilt werden kann. Vielleicht auch nicht. Ruhe in Frieden, liebe Großmutti! Ich gehe noch ein paar Schritte meines Lebens weiter, bis wir uns in der Ewigkeit wiedersehen werden.
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