Ich war zwei Jahre lang mit der Organisation „Offenes Herz“ im Senegal. In diesem Artikel möchte ich meine prägendsten Erfahrungen teilen. Es hat mich erstaunt zu sehen, wie „die armen Leute“ nach und nach meine Freunde wurden. Freunde, die ich wirklich bewundere, und die mir Vorbilder geworden sind. Zuerst möchte ich kurz erklären, was der Sinn beziehungsweise das Ziel meiner Zeit im Senegal war, damit der Kontext klarer ist. Deswegen ein paar Worte zu dem Verein, mit dem ich dort war.
Die Vision von Offenes Herz
Die heilige Mutter Teresa hat erst in Kalkutta und dann in Slums überall auf der Welt ihr ganzes Leben in den Dienst der Armen gestellt. Sie hat Hungernde gespeist, Kranke versorgt und Obdachlose in ihren Häusern aufgenommen: „Ich habe einmal einen Mann aufgenommen, der schrecklich an Würmern litt. Er sagte: Auf der Straße habe ich wie ein Tier gelebt, aber jetzt werde ich wie ein Engel sterben. Als er starb, schenkte er mir ein wunderschönes Lächeln.“ Dabei war die größte Armut, die ihr begegnete, nicht der Mangel an Essen oder Medizin, sondern die Einsamkeit der Verstoßenen. „Wir geben den Menschen Essen und Kleider, vor allem aber geben wir ihnen Liebe. Schlimmer, als hungrig und krank zu sein, ist es, niemanden zu haben. Das ist eine der größten Nöte der heutigen Welt.“
Aus Erfahrungen, wie dieser, entstand der Freiwilligendienst Offenes Herz, der Freiwillige in Armutsviertel überall auf der Welt entsendet. Die Freiwilligen wollen in Armutsvierteln für die Menschen da sein, die niemanden haben. Sie wollen ihnen ein kleines Zeichen des Trostes sein, eine kleine Antwort auf den Durst, den auch ich habe: dass es jemanden gibt, dem ich wichtig bin. Über die Zeit entstehen wahre Freundschaften. Manche Menschen werden schon seit 30 Jahren von den Freiwilligen besucht. Offenes Herz ist ein ziviler Verein. In jedem Haus gibt es aber auch festgelegte Zeiten für das Gebet, das eine zentrale Bedeutung für die Freiwilligen hat.
Die Freiwilligen leben in einem Armenviertel und wollen zuerst einfach die Nachbarn der Ärmsten sein und am Alltag der Menschen ihres Viertels teilhaben. Im Senegal haben wir uns zum Beispiel das Zimmer geteilt, die Wäsche mit der Hand gewaschen, jeden Tag die Straße vor unserem Haus gefegt und manchmal ist auch bei uns der Strom ausgefallen. Genauso teilten wir auch die Leidenschaften der Menschen und versuchten, so viel wie möglich, in die Kultur einzutauchen: Wir haben uns bemüht, Wolof zu lernen – eine der Hauptsprachen im Senegal – und ich durfte von den Menschen gezeigt bekommen, wie man dort kocht. Schon, wenn man ein paar Worte spricht, oder auf dem Markt sagt, dass man die Zutaten für Ceeb bu Jen (das senegalesische Nationalgericht) braucht, ist das für die Einheimischen wirklich etwas Besonderes und sie freuen sich sehr.
Trotz alldem gab es immer noch eine Distanz. Denn ich bin nicht im Senegal aufgewachsen und kann die Kultur nie vollends verstehen und natürlich komme ich aus einem ganz anderen Umfeld als die Menschen, denen ich begegnet bin: Ich bin in einer funktionierenden Familie und ohne materielle Mängel aufgewachsen. Erstaunlicherweise wurden diese Menschen nach und nach zu meinen Freunden. Ich möchte Euch hier gerne von Ablay und dem Beginn unserer Freundschaft erzählen.
Ablay – Ein Künstler auf einer Müllhalde
Im Senegal gehen wir einmal in der Woche zu der Müllhalde der Stadt, genannt „Mböbös“. Es ist eine große Fläche, wo die Müllautos die ganzen Abfälle von Dakar, der Hauptstadt des Senegal, wegwerfen. Es ist wirklich ein ziemlich schrecklicher Ort: Es riecht sehr übel, alles ist voll mit Müll und im Sommer ist es ziemlich heiß. Hier suchen Menschen mit Eisenhaken im Müll nach Sachen, mit denen man ein bisschen Geld verdienen kann. Einer dieser Menschen ist Ablay, der schon seit über 25 Jahren dort arbeitet. Fast genauso lange kennen ihn die Freiwilligen.
Zu Beginn meiner Zeit habe ich oft von ihm gehört, aber jedes Mal, wenn wir versucht haben, ihn zu besuchen, war er nicht daheim (er hat eine kleine Hütte direkt am Rand der Müllhalde). Eines Tages waren wir in Mböbös und haben mit einem anderen alten Freund Tee getrunken, als Ablay plötzlich um die Ecke kam. An dem Tag war er aber sturzbetrunken, deswegen war diese erste Begegnung etwas seltsam. Ich dachte mir: „Das ist ein armer Mann, ein Alkoholiker und vielleicht können wir ihm mit unseren Besuchen ‚helfen‘.“
Danach haben wir ihn erst ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Einmal bin ich wieder nach Mböbös gegangen, diesmal war Justine bei mir. Sie war am Ende ihres Freiwilligendienstes und es war das letzte Mal, dass sie nach Mböbös ging, bevor sie in die USA zurückkehrte. Da sie gerne Geige spielt, hatte sie beschlossen, für das letzte Mal die Geige mitzubringen, um den Menschen eine Freude zu machen.
Wir hatten uns gesagt, wir schauen mal, ob Ablay da ist und dann besuchen wir ein paar andere Freunde. Wir waren aber eigentlich sicher, dass wir ihn ohnehin nicht antreffen würden. Erstaunlicherweise war er aber diesmal doch bei sich zu Hause und in einem guten Zustand. Er hat sich richtig gefreut, uns zu sehen, weil er uns lange nicht gesehen hatte und die Freiwilligen immerhin seit über zwanzig Jahren kennt. Daher hat er entschieden, uns „seinen Platz“ zu zeigen: Neben der Müllhalde gibt es eine etwas tiefer gelegene Ebene, die zum Teil mit Meerwasser überschwemmt und sehr grün ist. Man sieht zahllose Vögel und einige Fische im Wasser. Außerdem gab es an dem Tag einen angenehmen Wind. Justine fing dort irgendwann an, Geige zu spielen und Ablay und ich waren richtig glücklich. Es war ein wunderbarer Moment, so etwas Schönes neben dieser hässlichen Müllhalde zu erleben.
Die Fähigkeit, überall Schönheit zu entdecken
Seit diesem Tag und dieser Erfahrung des gemeinsamen Staunens hat sich mein Blick auf Ablay geändert. Die Menschen, die auf der Müllhalde arbeiten (man nennt sie Budschman), sind in der Gesellschaft zwar nicht angesehen, aber Ablay ist eigentlich stolz auf seine Arbeit: er deutete einmal auf ein paar Menschen, die Reissäcke wuschen und sagte: „Die Leute werfen das einfach so weg, aber wir, die Budschman, wissen noch ganz genau, was man damit machen kann“.
Einmal ging mein Schuh kaputt und er sagte: „Kein Problem, ich suche dir einen anderen, mache die Sohle ab und nähe sie an deinen dran“. Die meisten Menschen in Mböbös haben hauptsächlich nach verschiedenen Plastiksorten gesucht, die sie pro Kilo verkaufen können. Die Hauptbeschäftigung von Ablay war es, nach weggeworfenen Plastikblumen zu suchen, sie zu reinigen und wieder zu Gestecken zusammenzufügen. Trotz seines harten Lebens hat Ablay in sich eine unglaubliche Sehnsucht nach dem Schönen erhalten und ist in der Lage, auch an diesem Ort und bei dieser Arbeit Schönheit zu finden.
Was mich aber noch mehr beeindruckt hat, ist, wie er sich um seine Frau gekümmert hat. Seine Frau war geistig und körperlich beeinträchtigt. Im Senegal ist es sehr selten, dass jemand eine Person mit Behinderung zur Frau nimmt. Auch aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigung haben sie sich immer wieder gestritten und sie ist oft abgehauen. Aber Ablay hat sie, wenn sie dann wieder zurückgekommen ist, immer wieder bei sich aufgenommen und sich um sie gekümmert, bis sie gestorben ist. Als ich begriff, dass Ablay, der nicht weiß, ob er in drei Tagen Geld zum Essen haben wird und ob seine Hütte die nächste Regenzeit übersteht, noch die Sorge um diese Frau auf sich nimmt, war mir klar, dass er ein besserer Mensch ist als ich. Aus jemanden, der für mich ein armer Alkoholiker war, ist ein Freund geworden, den ich wirklich bewundere.
Regelmäßige Besuch bei Ablay
Wir haben ihn dann immer wieder bei sich besucht. Wenn er mal nicht da war, was immer noch oft vorkam, haben wir den Nachbarn gesagt, sie sollen ihn grüßen. Wir haben ihn auch oft zu uns nach Hause eingeladen, um einen ruhigen Tag mit ihm verbringen zu können und vielleicht gemeinsam etwas zu kochen, allerdings hat es nie geklappt.
Als nach vielen Monaten zwei Freiwillige zusammen mit mir den Freiwilligendienst beendet haben, haben wir eine Feier veranstaltet und viele Freunde eingeladen, auch Ablay. Wir mussten in Mböbös eine Stunde suchen, um zumindest seine Frau anzutreffen (die damals noch lebte). Sie konnte dann die Einladung weitergeben. Wieder waren wir eigentlich sicher, dass er nicht kommen würde, weil wir ihn schon so oft eingeladen hatten und er nie gekommen war.
Diesmal kam er aber tatsächlich zum Fest, wenn auch nicht für lange Zeit. Als wir kurz unter uns gesprochen haben, hat er sich dafür bedankt, dass wir immer versucht haben, ihn zu besuchen und seine Nachbarn unsere Grüße an ihn ausrichten ließen, wenn er nicht da war. Ich habe ihn selten so ernst über sich reden hören. Erst durch seine Ernsthaftigkeit in diesem Moment habe ich verstanden, wie wichtig es ihm war, dass es jemanden gibt, der nach ihm fragt und den es kümmert, wie es ihm geht.
Unsere Freunde – Lehrmeister der Liebe
Nur wenn der Mensch weiß, dass er geliebt wird, kann er schwierige Momente ertragen. Die Einfachheit des Lebens während des Freiwilligendienstes, ohne viel Schnickschnack, hat mir geholfen, diese Tatsache ganz klar zu sehen. Schon wegen der Kinder aus unserem Viertel, die jeden Tag an unser Haus kamen und teilweise eine halbe Stunde warteten, nur um kurz mit einem von uns zu sprechen.
Doch auch in den Momenten, in denen ich krank war oder andere Schwierigkeiten hatte, habe ich gesehen, wie bedürftig ich bin und wie viel eine kleine Geste der Aufmerksamkeit bedeutet. Immer wieder durfte ich erfahren, dass ich nicht „der Gebende“ bin, der Freiwillige aus Europa, der den Menschen im Senegal hilft. Sondern dass ich eigentlich derjenige war, der von unseren Freunden, wie Ablay, lernen durfte, was Liebe bedeutet.
Falls ihr überlegt, mal einen Freiwilligendienst zu machen, ist hier die Website für mehr Infos: https://www.offenesherz.de
(Zitat von Mutter Teresa: https://www.spiegel.de/politik/wer-andern-hilft-fuehlt-liebe-a-600ec21a-0002-0001-0000-000009086121)
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