Es ist halb sechs Uhr morgens, ich sitze auf den Treppenstufen zu meinem Haus und warte auf meinen Abholdienst. Der Direktor der Grundschule, an der ich in den nächsten sechs Monaten Englisch unterrichten werde, wohnt im anliegenden Stadtteil und kann mich deshalb mit in die Arbeit nehmen, wofür ich ihn auch bezahle. Die Schule liegt am anderen Ende der Stadt und mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre ich über zwei Stunden unterwegs, um dorthin zu gelangen. Mit dem Auto schafft man das in der Hälfte der Zeit. Dreißig Minuten verspätet – was in Ecuador als überpünktlich gilt – fährt ein klappriges rotes Auto vor. Ich bin überrascht! Von einem Schuldirektor habe ich mehr erwartet als zerschlissene Ledersitze und Musik aus einem antiken Sony Ericson Tastenhandy.
Wie es in Ecuador allgemein üblich ist, brettern wir ohne Rücksicht auf jegliche Verkehrsregeln durch die Stadt. Ich muss zugeben, dass ich mich in Deutschland auch nicht immer an die Schulterblick-Regel aus der Fahrschule halte, bevor ich abbiege. Doch vier Fahrspuren gleichzeitig zu überqueren, ohne einen Blick nach links oder rechts, ist waghalsig, wenn auch hier keine Seltenheit (Und die Seitenspiegel-Ausrede zählt hier nicht, die sind nämlich oft gar nicht vorhanden). Blinker kennt hier zudem kein Mensch, willkürlich wird zwischen den Spuren hin und her gewechselt. Bei Uneinigkeit wird gehupt und wer am längsten hupt, gewinnt. Auch vor einer Kreuzung (ob mit oder ohne Ampel ist völlig gleichgültig) ist es viel bequemer, ein paar Mal zu hupen als anzuhalten und zu schauen, ob ein anderes Fahrzeug kommt.
Wieder einmal erleichtert, lebendig aus dem Auto steigen zu können, parken wir im Innenhof der Schule.
„Das hier ist Fanni, die Englischlehrerin der Grund- und weiterführenden Schule, die du in den nächsten Wochen erst einmal begleiten wirst.“ Fanni ist 25 Jahre alt und hat vor drei Jahren, nach dem Studium an der Universität von Quito, hier mit dem Englischunterricht angefangen. Sie sieht nett aus und ich freue mich, endlich einmal wieder ein anständiges Gespräch führen zu können. Mein Spanisch ist nämlich noch sehr stockend und man trifft hier kaum einen Menschen, der einer Fremdsprache mächtig ist. Als Fanni jedoch beginnt, mich auf dem Schulhof herumzuführen, schwindet meine Hoffnung auf jegliche Kommunikation schlagartig. Denn sie breitet die Arme aus und erklärt: „Everybody aqui is la escuela!“. Leicht verwirrt nicke ich und lächele freundlich. Wir gehen zum Garten und sie fährt fort: „This is the many flowers, because the childrens do you like the many flowers.“
Obwohl ich mich keinesfalls als einen Menschen bezeichne, der ein außergewöhnlich gutes Englisch spricht, bekomme ich bei diesen Worten eine Gänsehaut. Nach der Führung über das Schulgelände ist mir klar, wieso ich mich hier in Ecuador mit nahezu keinem Menschen auf Englisch unterhalten kann. Ich habe Fanni von Anfang an ins Herz geschlossen, sie ist fürsorglich, gut gelaunt und hat mich gleich zu sich nach Hause eingeladen. Bei ihren Versuchen, englische Sätze zu bilden, wäre mein ehemaliger Englischlehrer in Bayern jedoch vor Schreck in Ohnmacht gefallen. Sie meint, dass sie ein bisschen Probleme mit der Aussprache hat und ich ihr da vielleicht helfen kann. Für Fanni, die Kinder und für das Wohl der Menschheit, erkläre ich mich mit Freuden dazu bereit, ihr beim Englischunterricht zur Seite zu stehen. Es folgt ein weiteres Gespräch mit der Planung der nächsten Wochen, doch leider kommen wir nicht weit. Denn noch schwieriger als sprechen ist es für sie, meine Fragen zu verstehen. Denn ich spreche nicht das Englisch mit dem spanischen Akzent.
Immer mehr konzentriere ich mich darauf, meine Worte so schriftbildmäßig wie möglich auszusprechen. Und schon wird das Verständnis ein wenig leichter. Doch die Planung läuft dennoch sehr träge. Die Frage „What time is it?“ verwirrt mich, weil genau über mir eine Uhr an der Wand hängt. Erst viel später begreife ich, dass Fanni von mir wissen wollte, an welchen Tagen ich hier an der Schule arbeite. Wir beenden unser Gespräch frühzeitig, Fanni meint: „Do I like the coffee?“, und weil sie mich dabei fragend anschaut, nicke ich und sage ihr, dass ich sehr gerne einen Kaffee hätte. Zusammen gehen wir zurück ins Lehrerzimmer.
Für jede Jahrgangsstufe setzen sich die jeweiligen Lehrer im Stuhlkreis zusammen und nehmen sich ein paar Stunden Zeit, um die Probleme im letzten Trimester zu besprechen. Ich habe mitbekommen, dass diese Schule in einem Stadtteil mit ganz besonders gravierenden sozialen Problemen liegt. Dies bestätigt sich während der Diskussion der Lehrkräfte. Jeder Lehrer nennt seine Problemkinder und erklärt die aufgetretenen Schwierigkeiten. Es geht um alkohol- oder drogenabhängige Familien, Eltern, die Analphabeten sind und nicht einsehen, wieso ihre Kinder eine Schulbildung brauchen und Schüler, die keine zwei Dollar als Unkostenbeitrag für ihr Schulmaterial ausgeben wollen.
Als die Konferenz spätnachmittags endet, bin ich sowohl sehr beeindruckt als auch schockiert. Was die Lehrer in den Schulen hier leisten, ist keine leichte Aufgabe. Zwar bin ich überzeugt, dass man im Grundschullehramt immer gewisse Probleme mit manchen Schülern hat, doch zusätzlich zu unruhigen und ungelehrigen Kindern werden die Lehrer hier in Quito mit den sozialen Probleme der Familien konfrontiert. Mit dem größten Respekt und sehr nachdenklich verlasse ich das Lehrerzimmer.
Kurz vor der Fahrt zurück nach Hause zeigt mir Fanni noch die Räumlichkeit für den Englischunterricht. Sie lehrt hier Kinder ab sechs Jahre bis hin zum Abitur, ich werde sie nur mit den Grundschülern begleiten. An der Tafel lese ich den Satz: „Good morning childrens, how is you?“. Natürlich will ich nicht von Anfang an als der alles verbessernde Superstreber angesehen werden, aber ich beschließe, an meinem nächsten Arbeitstag zumindest das falsche Plural-S heimlich wegzuwischen.
Letztendlich bin ich aber sehr froh, an dieser Schule arbeiten zu dürfen. Einerseits bin ich überzeugt davon, hier die Art von Erfahrung zu sammeln, die ich mir aus meinem Freiwilligendienst in Ecuador erhofft habe und die für mein späteres Leben sehr wertvoll sein wird. Ich werde lernen, mit sozialen Problemen umzugehen und werde Familien aus schwierigen Verhältnissen kennenlernen. Andererseits bin ich glücklich, dass meine Arbeit hier auch wirklich gebraucht wird und kann so effektiv etwas für diese Erfahrungen zurückgeben.
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