„Das triggert mich gerade voll!“, „Das hat mich traumatisiert!“ oder „Das ist schizophren!“ – Unser Sprachgebrauch ist voll von psychologischen Fachbegriffen, die situationsübergreifend, teils unreflektiert und inflationär verwendet werden. Manchmal hat unsere Autorin das Empfinden, dass heutzutage jeder an einer Essstörung leidet, zumindest wird uns das öfters zum Beispiel über soziale Medien vermittelt. Schmälert diese alltägliche, universelle Ausdrucksweise das Leiden des Einzelnen? Welche Bilder haben wir von Menschen mit psychischen Störungen im Kopf?
Um diese Fragen zu beantworten, machte sich Frieda als Selbstbetroffene auf den Weg, ihre Irrtümer über psychische Leiden zu entdecken.
Irrtum Nr.1 – Ungeahnte, künstlerische Begabungen
Ich sehe mich noch heute in der Kunsttherapie sitzen mit einem leeren Blatt vor mir. Eine lange gähnende Stille umgab mich. Wie gerne würde ich mein Inneres ausdrücken, aber da fand ich nichts. „Du musst nur lange danach suchen, dann findest du es!“, bekräftigte ich mich selbst, um noch resignierter vor mich hin zu brüten. In Gedanken wanderte ich zu einem Arzt.
„Kennen Sie Vincent van Gogh, der hatte eine bipolare Störung und war sehr kreativ!“, behelligte er mich. Meistens wurden mir noch andere berühmte Leute mit psychischen Erkrankungen vorgestellt. Sollte das aus Sicht der Ärzte eine Ermutigung darstellen, so war es für mich mehr die Ernüchterung, dass ich weder superkreativ noch hochbegabt oder berühmt war. In Summe musste ich mich immer wieder aufraffen und ein „Ja“ zu meinem Leben finden, ohne besondere Vorteile oder ungeahnte künstlerische Fähigkeiten zu entdecken.
Irrtum Nr.2 – „Wird schon wieder!“
„Sie werden sehen, es wird mit der Zeit besser!“ oder „Sie werden ein Leben finden, mit dem sie zurechtkommen werden!“ – So lauteten mehrere Mut-Mach-Aussagen. Prompt würde ich heute darauf antworten: „Ich suche immer noch ein Leben, in dem ich nicht nur überlebe.“
Natürlich gewöhnte ich mich mit der Zeit an ein anderes Leben: mehr Rückzugsmöglichkeiten, weniger Stress, gleich über Probleme sprechen, Hilfe suchen etc. Ich lebe aber bis heute kein eigenständiges Leben, sondern brauche dauerhafte Hilfe in der Alltagsbewältigung. Und ich kann nicht das Leben leben, von dem ich einst träumte.
Irrtum Nr. 3 – Natürlich wird mir geholfen!
Ich schob den Ratschlag „in eine Klinik gehen“ so lange hinaus, bis ich selbst einsah, dass ich im Alltag und im Studium nicht mehr zurechtkam. Der blanke Horror war für mich der Gedanke vom Krankenwangen in der Universität abgeholt zu werden, weil die psychischen Auffälligkeiten zu alarmierend gewesen wären. Gleichzeitig hoffte ich aber auch selbst klarzukommen, ohne äußere Hilfe.
Als ich dann in einer psychiatrischen Klinik ankam, brach über mir eine Welle herein, die mich für einige Zeit nachhaltig lahmlegte: Lebenskrise, Wunsch nach Suizid, ein Cocktail an Medikamenten und wenig Hoffnung, an die Uni zurückkehren zu können. Wirklich Hilfe habe ich leider in dieser (ersten) Klinik nicht erfahren. Unter Hilfe versteht wohl auch jeder etwas Anderes. Zudem wäre es wichtig gewesen, dass ich selbst ausdrücke, was mir helfen könnte. Dazu war ich leider nicht mehr imstande.
Irrtum Nr. 4 – Sinnkrise – neuer Lebenssinn?!
„Welchen Sinn hat das Leiden?“, löcherte ich einen Krankenhausseelsorger. Ich wollte unbedingt einen tieferen Sinn erkennen, weil ich mir eine innere Erleichterung erhoffte. Ich hörte wiederkehrend von Menschen mit Schicksalsschlägen, die daraus ihre größte Stärkte entwickelten oder zum Helfer für andere Betroffene wurden.
So habe ich auch immer wieder über meine Kräfte hinaus (zwanghaft) versucht, anderen Menschen in psychischen Krisen zu helfen – bis ich mir selbst eingestehen musste, dass nicht jedes Leid einen direkten Sinn hat oder die Zeit noch nicht reif dafür war, Menschen eine seelische Genesungsbegleitung anbieten zu können.
Irrtum Nr. 5 – Der selbsternannte Psychologe
Mir ging es so, dass lange Klinikzeiten mit der Aufklärung über verschiedene Krankheitsbilder und das Zusammenleben mit Mitpatienten in mir die Vorstellung erweckten, ich wüsste selbst sehr gut über psychologische Zusammenhänge Bescheid.
Heute denke ich, dass es meine Art war, Kontrolle über mein Leben zu behalten, in dem ich mir selbst einbildete, mein eigener Psychologe zu sein. Das hat auch zum Teil wirklich geholfen, weil ich mein Leben selbst wieder in die Hand nahm. Aber nur weil man selbst einige Lebenskrisen erlebt hat, ist man kein ausgebildeter Psychologe.
Irrtum Nr. 6 – Einzel-Psychotherapie ist die Adresse Nr. 1
Ich habe lange Zeit ambulante (Einzel-)Psychotherapie in Anspruch genommen und bin sehr dankbar für diese Hilfe. Ich stellte mich lange Zeit gegen psychotherapeutische Gruppentherapien, weil ich starke Ängste und Vorbehalte hatte. Heute nehme ich viel mehr (auch niederschwellige) Angebote in Anspruch und bin offener dafür geworden.
Irrtum Nr. 7 – Gleich und gleich gesellt sich gern
Ich verliebte mich in einen Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Ich erhoffte mir Verständnis und Akzeptanz. Beides war vorhanden, nur übersah ich andere Kernpunkte: Wir waren beide nicht fähig, ein selbstständiges Leben zu führen. Hatte einer von uns eine gute Phase, war der andere im Loch. So wechselte sich das ab und in einen „funktionierenden“ Alltag kamen wir nie. Nach fast einem Jahr musste ich die Beziehung abbrechen und kam als Single besser zurecht.
Irrtum Nr. 8 – Kleider machen Leute
Um ehrlich zu sein, war mir nicht bewusst, als ich vor über zehn Jahren das erste Mal in eine Psychiatrie kam, wie Menschen mit einer psychischen Störung aussehen. Ich kannte bisher keine Betroffenen. Vielleicht hatte ich Begriffe wie „ungepflegt, verwirrt oder laut“ im Kopf. Darüber schmunzle ich heute. Jeder Mensch kann eine psychische Störung bekommen und somit lernte ich natürlich in den Kliniken auch Menschen jeglicher Schicht, Herkunft, Berufsgruppe etc. kennen. Ob reich, arm, jung, alt oder andere äußerlichen Banalitäten: Menschen bleiben Menschen, mit oder ohne Erkrankung. Hoffentlich!
Irrtum Nr. 9 – Spurensuche nach der einen Ursache
Was habe ich mein Gehirn zermartert, um endlich herauszufinden, warum ich psychisch erkrankt bin! Ich erhoffte mir, durch eine klare Ursache auch eine eindeutige Lösung zu finden. Das war ein ziemlich naiver Gedanke und Jahre später bin ich froh, dass heute in der Psychotherapie mehr mit einem systemischen Ansatz gearbeitet wird.
Mehr die Zusammenwirkung von verschiedenen Systemen können Ursachen darstellen. Somit gibt es auch mehrere Lösungsansätze und ich muss nicht die eine Lösung finden, damit sich ein Tor zu einer heilen Welt öffnet. Damit habe ich mich lange abgeplagt und den Fehler und die Schuld bei mir gesucht.
Irrtum Nr. 10 – Die eine Diagnose
Was habe ich die Ärzte gelöchert, welche Diagnose ich habe, denn mittlerweile ergab sich ein Sammelsurium davon. Manchmal überlegte ich neidisch: „Viel lieber hätte ich die Diagnose eines anderen als meine!“ Als gäbe es einen Marktstand, wo man sich sein Leiden selbst aussuchen dürfte. Aber das eigene Leid ist wohl immer das Schlimmste?!
Ich lernte mit der Zeit, dass es nicht die eine Diagnose geben muss und es vielleicht auch wichtiger ist, die Schwierigkeiten zu benennen und dafür Handlungsmöglichkeiten zu suchen. Meine Freundin lebt mit dem Motto „Lieber das pflegen, was geht, als immer darauf zu schauen, was nicht geht!“
Nun bin ich gespannt, welche neuen Erkenntnisse mich ein Stück meines weiteren Lebensweges begleiten und welche sich als erneute Irrtümer entlarven. Wie ist deine Erfahrung mit psychischen Besonderheiten? Worin hast du dich geirrt?
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