Die Welt spielt wohl verrückt. Seit Jahren schlagen wir uns die Klimafrage um die Ohren, werden dazu aufgefordert, nachhaltiger zu leben, während Klimagipfel nur vage ‚Ergebnisse‘ produzieren und für Rat- und Hoffnungslosigkeit sorgen. Auch die Kunst versucht im wissenschaftlichen Diskurs ihren Platz zu finden, doch läuft Gefahr, sich dabei selbst abzuschaffen. Über die Selbstüberwindung der Kunst angesichts der Klimakrise. Ein Kommentar.
Im Wandel der Zeit
Wie soll man sich denn nun verhalten? Bleibt man in der Wohnung? Fährt man nur noch mit dem Rad? Kauft man nur noch Second-Hand Kleidung? Oder bringt doch ohnehin alles nichts, da es auf systemische Veränderungen ankommt? Was nutzen nachhaltige Kleidung sowie Fortbewegung, wenn ein vehementer Wachstumskapitalismus den Ton angibt, die neuen Öko-Trends in seinen Kreislauf einverleibt und daraus ein eigenes Marktsegment installiert?
Angesichts des Corona-Wahnsinns verhärtet sich die Situation merklich: Während auf der einen Seite die Stimmen laut werden, endlich sei der Flugverkehr reduziert und die Welt könne sich von der Krankheit Mensch zumindest kurzweilig erholen, stehen auf der anderen Seite ‚besorgte Bürger‘ mit der Verfassung in der Hand auf den Straßen, fühlen sich um ihre Freiheit betrogen und fordern, dass endlich Schluss sei mit den unzumutbaren Beschränkungen.
Gleichzeitig wird das in bestimmten Milieus beliebte Urlaubsziel Mallorca weiterhin stur angeflogen. Spätestens wenn es um Ballermann-Hits, betrunkene One Night Stands und radikale-bürgerliche Entgrenzung geht, finden der Umwelt-Spaß und die Hygiene-Anforderungen ein jähes Ende. Bis Vater Staat den endgültigen Fun-Lockdown durchsetzt.
Die Kunst auf der Anklagebank
Doch auch und gerade der Kulturbetrieb erlebt eine historisch erstmalige Disruption. Eine Zwangspause für Musiker, Veranstalter, Techniker und sämtliche Wahlverwandte des Bereichs stellt Kulturschaffende vor Existenzängste. Der Mythos vom millionenverdienenden Superstar entpuppt sich spätestens jetzt als zynisches Märchen einer Zuhörerschaft, die ein mindestens ebenso zynisches Kunstverständnis offenbart, wenn der Maßstab des finanziellen Wohlergehens bei Ariana Grande und Justin Bieber und nicht bei Orchestermusikern und Jazz-Künstlern angesetzt wird.
Es ist jedoch der sonst so hochtrabende Kunstmarkt, der in einer Phase des synthetischen Stillstandes konfus dazustehen scheint. Die großen Biennalen und Messen bleiben aus, Händler können nicht mehr vermitteln und die Künstler bleiben buchstäblich auf ihren Werken sitzen. Angesichts der Klimakrise und der Zwangspause häufen sich die kritischen Stimmen, denen der Kunstmarkt schon länger ein Dorn im Auge war.
Nicht zuletzt stürzte sich der Sozialpsychologe Harald Welzer ins diskursive Getümmel, um mit erhobenem Zeigefinger auf die miserable CO2-Bilanz des Kunstbetriebes hinzuweisen. Die Kunst, so seine Forderung, solle sich endlich den Zeichen der Zeit anpassen und auf seinen eigenen Klimahaushalt achten, bevor sie selbst den Finger erhebt und mit nicht gerade klimaneutralen Werken auf die ökologischen Probleme dieser Zeit hinweist.
Künstlerische Vergänglichkeit in der Kritik
Welzer trifft damit durchaus einen wunden Punkt: Der dänische Künstler Ólafur Elíasson ließ 2014 angesichts des Klimagipfels mehrere tonnenschwere Eisblöcke von Grönland nach Paris verschiffen, um auf das Schmelzen der weißen Riesen aufmerksam zu machen. Ganz im Sinne der Logik der Marktwirtschaft wiederholte Elíasson dieses Unterfangen zwecks großer Nachfrage 2019 in London. Interessierte lauschen dem subtilen Schmelzen des Eis, sie umarmen das Eis, umtanzen und besingen das vergängliche Objekt. Was ohnehin skurril erscheinen mag, wirkt angesichts der 35 Tonnen CO2, die Elíasson alleine für seine Londoner Kunstaktion produzierte, noch bizarrer.
Harald Welzer, in der Figur des analytisch-nüchternen Weissagers einer nachhaltigen Zukunft, der damit auch die Werbetrommel für seine Forschungseinrichtung FUTUR 2 rührt, protestiert: Wenn mit schmelzendem Eis gearbeitet wird, tue man nicht mehr, als ein ohnehin existierendes Problem zu verdoppeln, es dabei gleichzeitig aber durch eine Moralisierung konsumierbar und damit vergleichbar zu machen. Der Klimawandel wird nicht nur durch die Kunstaktion verstärkt, sondern sie reduziert und banalisiert damit auch das umfassende Problem selbst. Die Kritik ist nicht neu, wohl aber das Ausmaß. Eine Kunst, die nur an das Bewusstsein appelliert, erreiche nichts. Sie müsse selbst mit gutem Beispiel voran gehen.
Künstler wie Jérôme Bel, seines Zeichens Choreograf, nehmen den klimaneutralen Imperativ mehr als ernst und reorganisieren ihr gesamtes Schaffen, um mit einem guten Beispiel voranzugehen. Das Flugzeug ist gestrichen, zwecks Videokonferenz wird das Homeoffice kurzerhand zum Tanzsaal umfunktioniert. Kunst wird zur Büroarbeit. Die Antwort auf die Frage, ob man dem Klima schaden darf, um Kunst zu betreiben, wird von Bel mit einer geradezu protestantisch anmutenden Überzeugung beantwortet: Erst das Klima, dann die Kunst.
Die Künstler und ihre Zeit
Lange ist die Zeit vorbei, in der utopistische Weltengestalter wie Pablo Picasso und Georges Braque voller jugendlicher Überheblichkeit und Wut auf den Plan traten, um bewaffnet mit Pinsel und Staffelei gegen alles miefige und muffige (bürgerliche!) anzustinken. Jedoch richtete sich ihr Anliegen nicht so sehr gegen politische Missstände, wenngleich gerade der damals linke Picasso lebhaft mit jungen Sozialisten über Nietzsche und den Kolonialismus diskutierte.
Die Aggression der Avantgarde richtete sich vor allem gegen eine formalistische Ästhetik – eine Bildsprache, wie sie gefühlsduselnd in Salons ausgestellt oder kitschig-klerikal unterrichtet wurde. Was Picasso aber so visionär und vor allen Dingen intellektuell machte, war das implizite Wissen darüber, dass eine Revolutionierung der Ästhetik gesellschaftlich und politisch nicht folgenlos sein kann. Das Grübeln über erkenntnistheoretische und ästhetische Probleme gipfelte nach langem Kampf in den Desmoiselles d’Avignon von 1907, die eine neue Perspektive auf die Welt boten: Den Kubismus.
Seit dem Erreichen der reinen Abstraktion durch Wassily Kandinsky nur vier Jahre später führte der Weg über mehrere Umwege in die postmoderne Beliebigkeit. Kunst ist, was gefällt. Zuletzt will Kunst politisch sein, eben weil es gefällt: Sie will in Diskurse eingreifen, sie will eine menschenverachtende Flüchtlingspolitik anprangern und am besten in einem Zug verändern. Sie will unter Zuhilfenahme von collagierten Zitaten Michel Foucaults und Judith Butlers auf die problematische Gender-Rollenkonstruktion hinweisen und nicht zuletzt ganz im Sinne einer Bendzkoisierung des Politischen „nur noch kurz die Welt retten“. Kunst will ernstgenommen werden und als ebenbürtiger Partner der Wissenschaft in Diskurse eingreifen, sie will rationaler und strenger sein, sie will Politik machen und eigentlich auch selbst Wissenschaft sein.
Verkommt die Kunst zum Gegenstand?
Die Figur des Künstlers offenbart sich heute mehr denn je als geradezu hoffnungslos vergesellschaftet: Er wird plötzlich als moralische Vorbildfunktion adressiert, als Teil der Schicksalsgemeinschaft “Welt”, die vor dem Abgrund steht. Gerade mit einem solchen Wissen seiner selbst betreibt er seine Kunst. Der Künstler und seine politischen Absichten scheinen wichtiger zu sein als die Kunst selbst.
Bel steht hier symptomatisch für diejenigen, die Welzers klimaneutralen Anweisungen folgen. Bloß: Wer jetzt für immer zuhause bleibt und wild entschlossen sagt: „Nie wieder Flieger oder Auto“, der kann die Pinsel oder das Werkzeug seiner Wahl auch gleich entsorgen. Sicherlich wäre es lächerlich zu fordern, ein Künstler habe sich völlig freizumachen von äußeren Einflüssen, er solle ganz in der Figur des autonomen Künstlers aufgehen – eine Figur, die ohnehin noch zu keinem Zeitpunkt existierte -. Jedoch geht mit der moralischen Überfrachtung und politischen Überhöhung der heutigen Kunstschaffenden die endgültige Rationalisierung und damit Entmystifizierung einer kulturellen Ausdrucksform verloren, deren Bedingung der Möglichkeit ebenjener Mythos der Kunst ist und von dem sich die Picassos und Kandinskys dieser Welt selbst noch umweht fanden.
Die erste Phase der radikalen Rationalisierung der Kunst wurde in einem berühmten Essay von Walter Benjamin beschrieben. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ geht Benjamin der Frage nach, wie sich die Kunst und der Begriff ihrer selbst, angesichts (damals) hochmoderner Techniken wie etwa des Films oder der Fotografie, verändern. Seine These: Vor allen Dingen geht die Aura verloren, jenes Heilige, das das Kunstwerk zum Kunstwerk werden lässt. Mit dem Auftreten der von Max Weber konstatierten ‚Entzauberung der Welt‘ geht auch die Einmaligkeit der Kunst unwiederbringlich verloren.
Technische Fragen werden wichtiger als die Kunst selbst, das Äußere der Kunst wird zu seinem Inneren erklärt, wodurch wahre Kunst jedoch verunmöglicht wird. Was Benjamin zu Beginn des letzten Jahrhunderts beschreibt, erfährt heute eine ungeahnte Beschleunigung: Durch die radikale Entmystifizierung der Kunst angesichts der Klimakrise, die sowohl der Kunst als auch dem Künstler einen ‚autonomen‘ Status völlig abspricht, wird das Äußere des Kunstwerks, namentlich sein technisches Herstellungsverfahren, zum eigentlichen Gegenstand gemacht. Technische Fragen mutieren zum obskuren Objekt der Begierde. Wenn die Klimaneutralität zur entschiedenen Bewertungskategorie der Kunst wird, hat sich die Kunst bereits selbst überwunden.
Mythos oder Selbstüberwindung?
Die Lage ist vertrackt: Dem Künstler, der politisch sein will, indem er klimaschädigend auf die Schäden am Klima hinweist, wird ein politischer Mehrwert abgesprochen, wohingegen derjenige Künstler, dessen Kunst frei von Anklage ist, zum politischen Helden emporgehoben wird, sofern er denn dem Klima nicht schadet.
Obwohl es tatsächlich fraglich ist, welche Veränderung die Werke von Elíasson bewirken, und obwohl das Besingen und Küssen der schmelzenden Eisblöcke eher einer gewissenserleichternden Messe für schon bereits Aufgeklärte gleicht, offenbart die Perspektive Welzers auf die Kunst ein massives Problem. Wer nur nach dem praktischen Nutzen der Kunst fragt, der zeigt einerseits, dass er oder sie nichts von Kunst versteht. Dadurch wird andererseits aber auch das Feld für die Frage eröffnet, ob man dieses oder jene Kunstwerk überhaupt ‚brauche‘ oder ob man es nicht einfach ‚entsorgen‘ oder besser gar: gar nicht erst entstehen lassen sollte.
Die politische Realität entscheidet dann basierend auf den positivistischen Forderungen der Sozialpsychologie oder Futurologie über die Frage: „Ist das Kunst oder kann das weg?“. Die Kunst würde dadurch zum Spielball politischer Interessenvertreter werden, die darüber bestimmen, was gute und schlechte Kunst sei sowie darüber, welche Kunst überhaupt ‚notwendig‘ sei. Sowohl die Künstler als auch die sie umgebende Gesellschaft sollten sich zweimal überlegen, ob sie diesen Hoheitsverlust der Kunst hinnehmen oder ob sie sich gegen einen moralisierenden Totalitarismus eines positivistischen Kunst(un)verständnisses auflehnen.
Eine Kunst, die sich selbst am Anspruch der Wissenschaftlichkeit messen will, eine Kunst die rational und klimaneutral sein will, eine Kunst, die also mit aller Macht den Charakter des Mythos von sich gleich eines alten Mantels abstreifen will, wird dadurch selbst – wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer berühmten Dialektik der Aufklärung formulierten – zum eigentlichen Mythos. Übrig bleibt die traurige Erkenntnis über eine schizophrene Kunst, die sich nicht mehr über ihre eigentlichen Stärken im Klaren ist und sich deshalb den pseudo-aufklärerischen Diktaten der Zukunftsforschung hingibt. Die freiwillige Reduktion ihrer Selbst auf ihre technischen Bedingungen zeugt von einer anhaltenden Entintellektualisierung der Kunst, die heute ihren scheinbar vorläufigen Höhepunkt findet.
Der paradox anmutende Zustand der Kunst muss wohl auch in eine ebenso paradoxe Aufforderung münden: Eine wahre Kunst sei eine solche, die zwar um ihren ‚entauratisierten‘ Warencharakter weiß, sich jedoch ihrer Wurzeln des Mythos bewusst bleibt und diesen bisweilen, entgegen der gegenwärtigen Rationalisierungsgesuche, zelebriert: Eine Kunst, die Kunst sein will, sieht ihre Aufgabe nicht darin, die Welt mal eben zu verändern, sondern darin, jenes zu sein, was sie seit jeher am besten konnte: Mythos sein – oder zumindest so zu tun.
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