Vor mir liegen 25 Meter reines Blau in Rechteckform, fein säuberlich von rot-weißen Leinen als Bahn abgetrennt. 25 mal vier Meter und ich habe es geschafft, so einfach ist die Formel. Ich drehe mich nach links und rechts und blicke in angespannte Gesichter. Das sind sie also, meine Widersacher, die es gilt zu schlagen. Einen unter ihnen kenne ich sogar: Max, mein Hauptkonkurrent. Nur wegen ihm bin ich die vergangenen Wochen im heimischen Vereinsbecken geschwommen. Ein Derby steht bevor: Er ist vom Verein der Nachbarstadt und somit würde ich dem ganzen Verein eine große Freude bereiten, wenn ich ihn schlage. Meine Anspannung beginnt durch diesen Gedanken nur noch mehr zu steigen, aber ich habe durch die letzten Wettkämpfe gelernt, damit umzugehen. Sich auf den Punkt zu konzentrieren, Leistung abzurufen, wenn es nötig ist.
„Mentale Stärke ist die halbe Miete“
„Mentale Stärke ist die halbe Miete“, sagt mein Trainer und ich kann ihm nur Recht geben. Nicht nur hier gilt das, sondern auch sonst im Leben. Ich kreise noch einmal mit meinen Armen, zweimal links, dreimal rechts und drücke anschließend meine Brille fest an den Kopf; ein Ritual, welches mir hilft, mich zu beruhigen. Es ist still, die ganze Halle wartet auf das Startsignal. Ich schaue noch einmal zum Beckenrand und erblicke ein Rudel mit blau-weißen T-Shirts. Mein Verein, ein kunterbunter Haufen verschiedenster Individuen: unterschiedlich alt, mit unterschiedlichen Interessen, Vorlieben, Stärken, Schwächen und was sonst noch alles dazugehört. Manche verstehen sich gut miteinander und sind gut befreundet, andere sehen die Beziehung zum anderen mehr als Zweckgemeinschaft. Ich erblicke zwei Gesichter, die mir zulächeln und den Daumen nach oben gerichtet haben. Es sind Johann und Tim, zwei gute Freunde von mir, die ich mittlerweile seit zehn Jahren kenne und jede Trainingsbahn gemeinsam mit Ihnen durchschwommen habe.
Vereinsleben heißt Zusammenhalt
Wie viel habe ich mit Ihnen schon erlebt; so etwas macht stark. Leon spielt natürlich demonstrativ mit seinem Handy und tut so, als würde er gar nicht mitbekommen, dass sich der halbe Verein erhoben hat, um sich meinen Lauf anzuschauen. Er war mir immer schon ein Dorn im Auge und wie oft habe ich mir gewünscht, dass er einfach nicht da ist. Aber ich habe eben hier gelernt, das man jeden Menschen irgendwie akzeptieren muss, sich mit ihm arrangieren muss, denn wie sagte schon meine Oma: „Jeder Jeck ist anders!“ Im Verein leben heißt aktiv am Zusammenhalt mitarbeiten und jeden akzeptieren, so wie er ist. Denn jeder ist, vor allem im Mannschaftssport, ein kleines Rädchen in der großen Uhr des Erfolgs.
Neben Johann und Tim sehe ich jetzt auch Jürgen, dessen Kopf vorsichtig über ihre Schultern lugt. Nicht nur sein Name macht ihn zum Exot, sondern auch seine grün-gelbe und viel zu enge Badehose. Vor allem aber seine Art: Sein Lieblingsthema „Spinnen“ mochte noch nie bei allen so recht ankommen. Ebenso sein stundenlanges Liegen auf der Wiese und Beobachten von Ameisen im Freibad beim Vereinsausflug letzten Sommer, stempelten ihn endgültig zum „Freak“ ab. Aber jeder hat seinen Platz in der „Lebensgemeinschaft: Verein“. Jürgen gehört für uns zum Verein so dazu, wie die rutschigen Fliesen zur Umkleide. Und wenn die Sprintstrecken mit Rückenschwimmen anstehen, dann ist Jürgen unsere erste Wahl, denn er ist einfach um Meilen besser als jeder andere von uns. Und während seines Laufs jubeln wir ihm alle zu, denn schon des Öfteren konnten wir nur durch ihn unsere gute Platzierung in der Endwertung halten. Denn auch hier ist es wie im Leben: Schlussendlich kommt es nur auf Leistung an, die einen nach vorne bringt, und das bewährteste Rezept ist, um Anerkennung zu bekommen.
Auch aus Niederlagen gestärkt hervorgehen
Oh, meine Gegner sind ja schon in Startposition, dann sollte ich mich wohl auch mal so langsam bereit machen. Natürlich ist meine Erwartung, jetzt gleich zu gewinnen, groß und ich fiebere einer Medaille entgegen. Aber auch wenn es diesmal nicht reicht, wird das kein Weltuntergang sein. So habe ich hier gelernt, dass man die eigene Niederlage akzeptieren muss, denn sie wird weitaus häufiger vorkommen als ein Sieg. Natürlich muss man danach sich selbst kritisch hinterfragen, warum es diesmal nicht gereicht hat. Aber auch hier wird man im Verein nicht allein gelassen: Der Trainer wartet schon auf dich, um haarklein deine Fehler zu analysieren und sie dir schonungslos vorzuhalten; aber nur so wird man besser.
Trotzdem sollte diese Niederlage beim nächsten Training zu noch mehr Engagement antreiben, denn ein Sieg ist kein Zufallsprodukt. Es gibt immer Menschen im Leben, die besser sind als man selber. Das ist zwar eine harte Tatsache, aber das habe ich schon bei meinem ersten Wettkampf gelernt. Wieso machen Johann und Tim mir denn auf einmal so hektische Handzeichen und wedeln mit den Armen? Sogar Leon hat sich erhoben und steht lachend vorne am Beckenrand. Und wieso brüllt mein Trainer denn so lauthals? Aber vor allem: Was sehe ich denn für schwarze Badekappen, die in ihren Bahnen über das Wasser gleiten?
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