Mit 22 bin ich Halbwaise geworden. Dieses Wort hatte bis dahin keine Bedeutung für mich. Es war zwar noch nie leicht, mit Menschen oder Freunden zu reden, wenn man wusste, dass sie Halbwaisen sind. Es kam immer der Punkt, an dem man peinlich berührt war, wenn man in das Fettnäpfchen getreten ist. Nämlich dann, wenn man diese Person nach beiden Eltern gefragt hat und dann mitbekommt, dass nur noch eines lebt. Oops! Ich kann euch aber sagen, meistens kommen die Halbwaisen damit besser klar als ihr.
Allein gelassen?
Ich fand es schrecklich, schon mit 22 sagen zu können, dass ich Halbwaise bin. Vor allem, weil alles so plötzlich kam. Am einen Tag ist man noch fröhlich in der Weltgeschichte unterwegs und am nächsten Tag kommt man nach Hause, überall Licht und Radio an. Und dann die Nachricht, dass Papa im Koma liegt und es nicht gut aussieht. Eine Woche später ist er dann gestorben.
Diese Woche war die bisher schlimmste Woche in meinem Leben. Jeden Tag im Krankenhaus, jeden Tag mehr versucht zu verstehen, was das heißt, wenn er nicht mehr ist. Dann kam der Tag und alles kam anders. Meine Familie hat sich da gegenseitig unterstützt und gemeinsam haben wir dann die ersten Wochen und Monate gestemmt. Gemeinsam haben wir auch beschlossen, in unserem Haus wohnen zu bleiben und die Erinnerungen mit Papa aufrecht zu erhalten. So schwer es am Anfang auch war.
„Oh… das tut mir Leid“ – Wie reagieren Bekannte?
Für meine Freunde und Bekannten, war es am Anfang besonders schwer, mit mir umzugehen. Auch heute noch sind sie manchmal peinlich berührt, wenn es um meinen Papa geht. Ich habe nämlich ein Tattoo, das mich an meinen Papa Tag für Tag erinnert. Wenn Leute mich darauf ansprechen, erzähle ich ihnen die Story.
Die Menschen blicken dann meistens verwirrt und dann kommt, was kommen muss. „Oh… das tut mir leid!“ Und danach wird schnell das Thema gewechselt, weil die Person meistens denkt, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten ist und es jetzt peinlich wird. Nein, es wird wirklich nicht peinlich. Ja, ich bin Halbwaise. Und ja, das ist echt beschissen. Aber euch muss das nicht leidtun und auch nicht peinlich sein. Es steht nicht auf meiner Stirn und es ist alles gut. Und riechen könnt ihr das nun mal auch nicht.
Und Deine Freunde?
Meine Freunde haben es wirklich gut aufgenommen. Ich kannte die Truppe aus meiner Uni noch nicht lange, hatte aber alle Vorlesungen und Seminare mit ihnen gemeinsam, also musste ich ihnen ja sagen, was hier vorgeht. Mir war nicht sicher, wie lange ich aus der Uni raus sein werde. Und auch auf der Arbeit musste ich das natürlich sagen.
Ehrlich gesagt, kamen hier wirklich die nettesten und ehrlichsten Antworten. Die wenigsten wussten, was zu sagen war und wie sie helfen konnten. Und damit haben sie mir ehrlich gesagt am meisten geholfen. Sie haben mir zugehört, sie haben manchmal nachgefragt und mittlerweile kann ich sogar ein paar Scherze machen. Es ist schön, dass ich bei meinen Freunden so offen sein kann.
Abschluss
Jetzt nach drei Jahren habe ich es teilweise verarbeitet. Es gibt zwar immer noch gute und schlechte Tage, aber im Großen und Ganzen ist es okay. So wirklich akzeptieren werde ich das wohl nie, weil mir und allen anderen Halbwaisen da draußen, die so jung sind wie ich oder es waren, einfach viel Zeit mit dem verstorbenen Elternteil fehlt.
Der Abschluss an der Uni, die ersten tollen Noten in der Uni, der erste richtige Vollzeitjob, eventuell eine Hochzeit, Kinder und und und. Aber hey, das ist zwar alles doof, aber die guten Tage fangen auch ohne das zweite Elternteil an zu überwiegen. Mein Papa würde nicht wollen, dass ich mein Leben lang tottraurig bin. Ich trage ihn in meinem Herzen (und auf meinem Arm) und das ist am Ende, was zählt. Also fühlt euch nicht peinlich berührt, wenn ihr jemanden trefft, dessen Elternteil nicht mehr ist. Es ist okay. Meistens! Und obwohl es für uns alle schwer ist, bleiben uns doch meistens die Erinnerung an die Person, die gegangen ist.
Emma
Ich bin vor 2 Wochen mit 14 auch völlig unerwartet Halbwaise geworden Mama wollte am Abend ihre Schwester besuchen wurde vom Taxi 1 Kilometer falsch abgesetzt.Zum Verständnis meine Tante ist Bäuerin und wohnt mitten auf dem Feld ohne Straßenlaternen.Sie hat sich wohl verlaufen und ist dann erfroren.Es ist schrecklich und ich komm nicht gut klar damit das sie jetzt einfach weg ist.
T.
Ich wurde ein paar Wochen nach meinem Abitur Halbwaise (Ist jetzt ein paar Jahre her.). Mein Vater war lange schwer krank. Es war nicht so unerwartet wie bei denjenigen, deren tote Elternteile Unfälle hatten, dadurch ist die Trauer anders.
Aber der Umgang anderer bleibt ein Drahtseilakt: Man will nicht bemitleidet werden, will aber auch nicht immer damit hinter dem Berg halten, wenn man Freundschaften schließt.
Gleichzeitig hat man aber auch die Befürchtung, dass andere nicht damit klarkommen, weil solche Dinge in dem Alter eben noch eine seltene Ausnahme sind.
B.
Ich habe meinen Vater mit 6 Jahren verloren. Das ist jetzt fast 30 Jahre her. Praktisch mein ganzes Leben bin ich Halbwaise. Meine ganze Schulzeit, meine ganze Jugend und mein junges Erwachsenenleben habe ich ohne ihn verbracht. Erinnerungen habe ich wenig schöne, die meisten Erinnerungen beschränken sich auf seine Krebserkrankung, das Leiden, die Hoffnung, seinen Tod und die Trauer danach. Und ich bin noch immer in einem Alter in dem die meisten noch beide ihrer Elternteile haben und Leute sich peinlich berührt fühlen wenn ich antworte, dass er nicht mehr lebt. Ich habe kein Problem wenn man mich darauf anspricht, hoffe aber manchmal dass nicht nachgefragt wird. Nicht weil ich es nicht ertragen kann, sondern weil ich niemandem eines vorm Latz knallen will. Niemanden in eine unangenehme Situation bringen will. Nicht mitleidig angesehen werden möchte. Aber es ist ein Teil meiner Biografie. Nichts im Leben hat mich mehr geprägt wie sein früher Tod. Nichts im Leben hat mir so derart rabenschwarze Tage beschert, an dennen ich mich manchmal fragte wie ich die Zeit bis zum Abend überlebe. Nichts im Leben hat mir mehr Trauer, Wut, Verzweiflung und Angst gebracht. Aber sein Tod brachte mir auch den Optimismus, dass trotz einer Katastrophe wieder alles gut werden kann. Dass die Summe meines Lebens viel mehr ist, als die Anzahl der Stunden. Dass ich das Leben so lange genießen möchte wie es mir möglich ist. Auch das alles habe ich durch seinen Tod für mein Leben mitgenommen. Und deshalb möchte ich auch manchmal davon erzählen. Weil er ein Teil von mir ist, der schon lange tot ist.
Rainer Tessmann
Der Begriff “Halbwaise” bzw. “Waise” bezieht sich auf Kinder, die einen oder beide Elternteile verlieren, nicht auf Erwachsene. Es ist sehr traurig, wenn man mit 22 seinen Vater verliert, aber Halbwaise wird man dadurch nicht.