Als sich Kurt Cobain am 5. April 1994 aus dieser Welt geschossen hat, war ich gerade ein halbes Jahr alt. 21 Jahre später läuft seine Musik bei mir rauf und runter. Und ich bin bei weitem nicht die einzige. Warum? Weil Kurt Cobains Musik all das sagt, was ich fühle und denke und nicht in Worte fassen konnte. Weil er den Mut hatte, es auszusprechen. Weil es bei all der Oberflächlichkeit und dieser Mainstream-Kultur etwas Echtes ist. Ich will nicht behaupten, zu wissen, wer Kurt Cobain war. Aber wenn man seine Songs hört, kann man ihn vielleicht ein Stück weit fassen. Wie er es selbst einmal gesagt hat: „if they can’t get some kind of idea of what sort of person I am through my music then that’s too bad.“
‘I tried hard to have a father, but instead I have a Dad’
(Aus: „Serve the Servants“)
Kurt Donald Cobain wurde am 20. Februar 1967 in dem kleinen verregneten Holzfällerstädtchen Aberdeen im Staat Washington im Nordwesten der USA geboren. Die ersten sieben Jahre seines Lebens beschrieb er als glücklich – die einzige wirklich glückliche Zeit seines Lebens. Bis sich seine Eltern, Wendy und Don, scheiden ließen. Für Kurt brach damit seine Welt zusammen. Er wurde, wie er es ausdrückte, „anti-social“, zog sich zurück. Er sagte, er begann damals die Realität seines Umfeldes zu verstehen. Er begann eine tiefe Abneigung gegenüber der Welt, in der er lebte, zu spüren, die mit der Zeit nur immer stärker wurde. Stabilität oder Sicherheit gab es von da an nicht mehr. Kurt lebte zwar nach der Scheidung einige Zeit im Haus seines Vaters und dessen neuer Familie, doch Kurt sagte, eine Vaterfigur fehlte dennoch in seinem Leben.
Er habe sich immer einen Vater gewünscht, doch nie wirklich einen gehabt. Seit der neuen Ehe seines Vaters sei Kurt für ihn unwichtig geworden. Außerdem entsprach der künstlerische Kurt nie den sportlichen Ambitionen seines Vaters. Schließlich zog Kurt aus und lebte von da an mal hier mal dort, wurde zwischen verschiedenen Verwandten weitergegeben. Später als Jugendlicher, lebte er dann auch zeitweise bei Freunden, eine Zeit lang sogar – nach eigener Aussage – unter einer Brücke am schlammigen Ufer des Flusses Wishkah. Von dieser Zeit handelt sein Song „Something in the way“. „Underneath the bridge the tarp has sprung a leak […] and I’m living off of grass and the drippings from the ceiling“.
‘I’m not like them, but I can pretend’
(Aus: „Dumb“)
In der Schule ging es Kurt nicht besser. Er war ein Außenseiter, hatte kaum Freunde. Aberdeen war eine typische Kleinstadt, alles was irgendwie anders schien, wurde von den meisten für schlecht oder böse gehalten. Kurt war anders. Er war kein Redneck, hörte Underground-Musik, trug zerrissene Jeans und war ein Einzelgänger. Er selbst erzählte in einem Interview, er habe lange Zeit nur weibliche Freunde gehabt, mit den Jungs in seinem Alter sei er nicht zurechtgekommen. Schon damals manifestierte sich seine tiefe Abneigung gegen den „typischen männlichen Macho-Amerikaner“, wie er solche Typen später nennen würde. Die Typen, die immer die Mädchen abbekommen, die Frauen ohne Respekt behandeln, und die Republikaner wählen.
‘Thanks for the tragedy, I need it for my art’
(Zitiert aus Cobain’s Tagebüchern)
Schon als Kind war es Kurts Traum, Rockstar zu werden. Was nur wenige wissen: Kurt ist als Siebenjähriger nicht über die Gitarre sondern über das Schlagzeug zur Musik gekommen. Von seinen Eltern bekam er ein Mickey-Maus-Schlagzeug geschenkt. Seine Mutter Wendy erzählte, dass Kurt seit er aufrecht sitzen konnte schon auf Töpfe und Pfannen eingedroschen hatte. Als er endlich ein richtiges Schlagzeug hatte, tat er nach der Schule nichts anderes mehr, als darauf einzuschlagen – bis es schließlich kaputt ging.
Zur Gitarre kam Kurt erst mit vierzehn, als sein Onkel, bei dem er zu dieser Zeit wohnte, ihn zu seinem Geburtstag vor die Wahl zwischen einem Fahrrad und einer Gitarre stellte. Kurt nahm die Gitarre. Unterricht nahm er gerade einmal eine Woche lang. Bis er die Akkorde von AC/DC’s „Back in Black“ spielen konnte. „Mehr braucht man nicht zu kennen“, sagte er. Bald darauf begann Kurt auch erste eigene Songs zu schreiben. Diese ersten musikalischen Versuche beschrieb Kurt später als „wirklich ungehobelten Gitarren-Rock […], ich versuchte, so widerlich zu spielen, wie ich nur konnte. Ich drehte den Verstärker voll auf. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, was ich machte.“ Er steckte einfach all seine Wut, Einsamkeit und Gedanken in seine Musik. Als Texte dienten Fetzen seiner Gedichte. „I’m such a nihilistic jerk half the time and other times I’m so vulnerable and sincere. That’s pretty much how every song comes out… That’s how most people my age are“.
Die Grundlage für Nirvana war geschaffen. Seine erste Band, die er Fecal Matter taufte, gründete Cobain im Winter 1985 mit Dale Crover und Greg Hokanson, die er aus Aberdeen kannte. Krist Novoselic, den späteren Bassisten von Nirvana, lernte Kurt schon auf der High-School kennen, und näher dann auf Bandproben der Melvins im Haus ihres gemeinsamen Freundes Dale Crover. Schon zu Fecal Matter-Zeiten wollte Kurt unbedingt eine neue Band mit Krist gründen, den er wegen seines satirischen Humors unheimlich cool fand. Doch Krist zeigte lange Zeit kein Interesse daran. Schließlich, nachdem er ein Demo-Tape von Kurts Band gehört hatte, sagte er zu Kurt: „Ich habe mir gerade deine Kassette angehört. Sie ist ziemlich gut. Wir sollten eine Band machen.“
‘Here we are now, entertain us; I feel stupid and contagious’
(Aus: „Smells like teen spirit“)
Mit Krist als Bassist, Kurt als Gitarrist, Sänger, Songwriter und einem ständig wechselndem Drummer begann die Geschichte von Nirvana. Die Band bezahlte die Aufnahmen für eine erste Demo-Aufnahme selbst und im Winter 1988 erschien ihre erste Single „Love Buzz“. 1989 unterschrieb die Band ihren ersten Plattenvertrag mit dem Seattle-Undergroundlabel SubPop Records. Dort erschien auch Nirvana’s erstes Studioalbum „Bleach“.
Erst 1990 kam der endgültige Drummer Dave Grohl zu Nirvana. Er hatte vorher in der Hardcore-Band Scream gespielt. Ein Jahr später, 1991, erschien die Single „Smells like teen spirit“ vom zweiten Album Nevermind und Nirvana explodierte. Besonders Cobain ging an dem plötzlichen Ruhm der Band kaputt: „famous is the last thing I wanted to be.“ Anstatt auf Tour zu gehen, um ihren Erfolg weiter auszubauen, zogen Nirvana sich nach dem Erfolg von Nevermind zurück.
Bis heute gilt die Band als diejenige, die den Alternative-Rock revolutionierte und vom „Untergrund“ an die Oberfläche, in den Mainstream, geholt hat. Nirvana waren laut und wütend, sie zerstörten nicht selten ihr eigenes Equipment, sie waren ein wenig politisch, ein wenig poetisch, doch vor allem an die individualistische Alternative-Szene gerichtet und ebenso von dieser inspiriert. Kurt beschrieb ihre Musik als „musically and rhytmically retarded. We play so hard that we can’t tune our guitars fast enough. People can relate to that.“ Den ersten Teil dieser Aussage würde ich bestreiten, denn unter den lauten Gitarren und den krachenden Drums liegen verdammt viel Harmonie und Rhythmus. Die Songs sind ein bisschen wie ein Spiegelbild von Kurt Cobain selbst: laut und wütend und zugleich leise und zerbrechlich, intelligent und einsichtig und voller Verständnis für sein eigenes Dilemma. „Use just once and destroy“ (aus: „Radio friendly unit shifter“). Warum hat er nicht aufgehört, als ihm alles zu viel wurde, sondern hat sich immer mehr in seine Heroinsucht geflüchtet?
‘He’s the one who has to sing along to all our pretty songs, but he knows not what it means’
(Aus: „In Bloom“)
Was Kurt als besonders schlimm an dem plötzlichen Erfolg von Nirvana empfand, waren viele der neuen „Mainstream-Fans“. In seiner Dankesrede bei den MTV Music Awards 1992 bedankte er sich ausdrücklich nur bei den „echten Nirvana-Fans“. „I have a request for our fans… If any of you in any way hate homosexuals, people of different colour, or women, please do this one favour to us – leave us the fuck alone!“ lautet es in dem Heftchen zu ‘Incesticide’, einer Sammlung von B-Sides, Studio-Outtakes und seltenen Songs von Nirvana, erschienen 1992.
Als Songwriter der Band thematisierte Cobain in vielen Songs gesellschaftskritische Themen. Der Song ‘Polly’ beispielsweise beschreibt die Flucht eines Vergewaltigungsopfers aus der Ich-Perspektive des Täters: „Polly wants a cracker, I think I should get off her first.“ In ‘Rape me’ wird Cobain noch deutlicher. Provokativ fordert er: „Rape me my friend, rape me again“. 1993 trat die Band außerdem auf einer Benefizveranstaltung in San Francisco für die Vergewaltigungsopfer in Bosnien auf. Der Song ‘Radio friendly unit shifter’ ist eine aggressive Kritik an der Mainstream-Musikindustrie, der Politik der Bush-Ära und der Gesellschaft insgesamt. Auch gegen die in Amerika weit verbreitete Homophobie und den Rassismus setzte sich die Band um Kurt Cobain ein, ebenso für die Gleichberechtigung von Frauen und noch viel mehr gegen Gewalt an Frauen. Michael Stipe sagte 2014: „Nirvana tapped into a voice that was yearning to be heard. […] They spoke truth and a lot of people listened.“
‘It’s safe to say: Don’t quote me on that’
(Aus: „On a plain“)
Es ist schwierig, wirklich sagen zu können, wer Kurt Cobain wirklich war. Nicht selten hat er erfundene Dinge in Interviews erzählt, oder zumindest Dinge, bei denen man nicht genau sagen kann, ob sie wahr oder erfunden sind. Wie bei der Episode seines Lebens, in der er angeblich unter einer Brücke lebte. Das liegt zu einem großen Teil daran, dass er wohl verhindern wollte, dass die meisten Menschen ihn wirklich kennenlernen könnten. Über seine Songs sagte er oft, sie hätten keine Bedeutung, es seien einfach zusammengeschmissene Zeilen aus irgendwelchen von seinen „sinnlosen“ Gedichten. Eine Aussage, die offensichtlich nicht wahr ist, aber ihre Berechtigung hat. Seine Musik, seine Kunst, enthält alles was ihm wichtig war, was ihn bewegte und was ihn ausmachte. Als Nirvana ‘explodierte’ stand Kurt Cobain plötzlich mit seinen Songs vollkommen ungeschützt und verletzlich vor der Welt. Verständlich also, dass er versuchte, einen Schutz zwischen sich und der Welt, die hasste und fürchtete, aufzubauen. An eine Wand seines Hauses hatte Kurt gesprayt: „NONE OF YOU WILL EVER KNOW MY INTENTIONS“.
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