Ende 2016 hat Kolumbien per Vertrag Frieden mit der FARC-Guerilla geschlossen. Innerhalb eines halben Jahres sollten die Rebellen entwaffnet und auf ein ziviles Leben vorbereitet werden. Doch Verzögerungen und Gewalt erschweren den Prozess. Wird der Frieden halten? F1rstlife hat mit Experten gesprochen – eine Bilanz.
Am helllichten Tag kam der Guerillero in ihr Haus, misshandelte und vergewaltigte sie. Laura González (Name geändert), die dadurch schwanger wurde, musste ihren Heimatort verlassen und psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Sie ist jetzt eine Vertriebene. Schicksale wie dieses sind in Kolumbien kein Einzelfall, sondern tägliche Realität. Zukünftig aber sollen solche Geschehnisse der Vergangenheit angehören, denn Kolumbien hat Ende vergangenen Jahres – zumindest auf dem Papier – Frieden mit der FARC-Guerilla geschlossen.
Wer sind die FARCS und wie will Kolumbien Frieden erreichen?
Seit 2012 führten die kolumbianische Regierung und die Führung der linken FARC-Guerilla Gespräche, um einen Friedensvertrag zu erringen, der den bewaffneten Konflikt im Land beenden sollte. Die Anschläge der marxistisch-leninistischen Rebellengruppe erschüttern das Land seit mehr als 50 Jahren und forderten in dieser Zeit unzählige Opfer. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) gründeten sich in 1960er Jahren als Bauernarmee mit dem ursprünglichen Ziel, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Ende September des vergangenen Jahres haben die Verhandlungspartner sich schließlich auf ein Friedensabkommen geeinigt, das von Staatshäuptern der westlichen Welt euphorisch begrüßt wurde. Doch die kolumbianische Bevölkerung lehnte es in einem Referendum mit 50,2 Prozent überraschenderweise ab. Die Regierung und die Rebellen ließen sich davon aber nicht abschrecken und unterschrieben Ende November einen neuen, überarbeiteten Friedensvertrag. Dieses Mal durfte das Volk nicht mitentscheiden. Seit der Vertrag vom Kongress im Dezember angenommen wurde, hat der Übergangsprozess begonnen, in dem die Rebellen an ein ziviles Leben herangeführt werden sollen. Doch was genau bedeutet dieses Friedensabkommen für die Kolumbianer? Kann die Integration der ehemaligen FARC-Kämpfer gelingen und bringt der Vertrag dem Land einen nachhaltigen Frieden? Rückblick auf das letzte halbe Jahr des Übergangsprozesses.
Der Vertrag sah vor, dass die Kämpfer ab Januar in sogenannten Entwaffnungszonen versammelt und innerhalb von 180 Tagen entwaffnet werden. Dort sollen sie ein halbes Jahr lang auf ein Leben in der Zivilgesellschaft vorbereitet werden. Für die Bestrafung von ehemaligen, straffälligen FARC-Anhängern wurde eine Sonderjustiz geschaffen. Rebellen, die ihre Taten eingestehen, sollen für höchstens acht Jahre inhaftiert werden. Kämpfer, die sich keiner Menschenrechtsverbrechen, sondern „lediglich“ politischer Vergehen schuldig gemacht haben, sollen sogar ganz von ihrer Schuld befreit werden (= Amnestie). Diese Bedingungen waren Voraussetzung der Guerilla, um sich auf den Frieden einzulassen. Um ihre politischen Anliegen in Zukunft auf friedlichem Weg zu verfolgen, müssen den Rebellen laut Abkommen für die nächsten zwei Legislaturperioden fünf Sitze im Senat und im Kongress bereitgestellt werden. Außerdem sollen Integrationsmaßnahmen geschaffen werden, die es den ehemaligen Kämpfern ermöglichen, einen Job zu finden.
Kritische Stimmen bezweifelten im Vorfeld aber, dass die Vertragspunkte tatsächlich umgesetzt werden. f1rstlife hat Anfang des Jahres mit zwei Kolumbien-Experten gesprochen: Rund ein halbes Jahr später ziehen wir nun den Vergleich zwischen Einschätzung und Realität. Sven Schuster, Professor für lateinamerikanische Geschichte und Kolumbienexperte, lebt und lehrt seit Jahren in Bogotá. In unserem Gespräch zweifelt er daran, dass Vereinbarungen wie die Bestrafung der Täter in Zukunft konsequent angewendet werden: „Die angekündigten vertraglichen Strafen sind alle nur Show. Sie wurden zwar nach dem abgelehnten Referendum verschärft, aber trotzdem wird es zum Großteil straffrei für die FARC laufen, denn in Kolumbien herrscht das Prinzip der Straffreiheit.“ Auch gegenüber anderen Vertragspunkten ist er skeptisch: „Das ist alles nur Papier.“
Übergangprozess verfehlt Vorgaben
Am 1. Juni sind die 180 geplanten Tage für den Übergangsprozess zu Ende gegangen. Anhand dieser Deadline zeigen sich die ersten Abweichungen vom Vertrag: Bisher haben noch längst nicht alle Ex-Kämpfer ihre Waffen an die UNO übergeben, die den Friedensprozess überwacht. Die Frist wurde auf den 20. Juni verlängert, ein Kommandant der FARC sagte gegenüber dem Deutschlandfunk aber Ende Mai, dass die Waffenübergabe noch ganze drei Monate dauern könne. Auch mit den Schutzzonen als solche gibt es Probleme: Noch Mitte März waren die Behausungen in einigen Lagern im Dschungel Rohbauten, es mangelte an einer ausreichenden Versorgung mit Wasser sowie Lebensmitteln und in einigen Camps gab es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Strom. Die Regierung nennt logistische Probleme als Grund für die Verzögerungen.
Was das Amnestiegesetz angeht, lief es anfangs gut: Der Kongress verabschiedete noch im letzten Jahr die Verfassungsreform, mit der Rebellen ihre Strafe mit sofortiger Wirkung erlassen werden sollte. Allerdings sind bis Juni laut Medienberichten nur um die 600 der rund 4.000 Betroffenen aus der Haft entlassen worden. Die Regierung setzt die Guerilla unter Druck: Sie will die restlichen Kämpfer erst freilassen, oder in die Schutzzonen bringen (diejenigen, die sich vor dem Sondergericht verantworten müssen, sollen solange in den Übergangszonen bleiben), wenn alle Waffen abgegeben sind. In den vergangenen Monaten kommt es immer wieder zu gegenseitigen Schuldzuweisungen von FARC und Regierung.
Facebook & YouTube statt Kalaschnikow
Bei der Umsetzung der formalen Vertragspunkte hapert es also noch. Wie aber steht es ein halbes Jahr nach Vertragsbeginn um die angekündigten Wiedereingliederungsmaßnahmen? Lässt sich eine Truppe idealisierter und überzeugter Kämpfer, die jahrelang Terror verbreitete, so leicht integrieren?
Einer offiziellen Statistik zufolge hat der Konflikt über 6 Millionen Flüchtlinge und 256.000 Mordopfer hervorgebracht. Die Verbrechen, die zu diesen erschreckend hohen Zahlen führten, haben die kolumbianische Gesellschaft traumatisiert und gespalten: Es gibt viel Wut und Hass, aber auch Rache gegenüber der FARC. Laut Zahlen, die dem Spiegel vorliegen, wünschten sich noch im vergangenen Oktober 88 Prozent der Kolumbianer, dass die Rebellen ins Gefängnis gehen. Diese gesellschaftliche Abneigung war einer der Hauptgründe für das gescheiterte Referendum. In den Augen vieler „No“-Wähler waren die Strafen für die Rebellen ungerecht, das Strafmaß zu gering.
Stand Januar ist es laut Schuster trotz diese Bedingungen möglich, die Rebellen zu integrieren: „Die Menschen denken trotz allem, dass ein Frieden mit der FARC besser ist als die bisherige Gewalt. Seit bekannt ist, dass die Guerilla Zugeständnisse an die Opfer machen wird, hat sich ihr Image verbessert.“ Die Integration der Kämpfer soll zu Beginn mit monatlicher Sozialhilfe von etwa 215 US-Dollar pro Person unterstützt werden. Ihre politische Teilhabe wird mit dem Recht auf eine eigene Partei gewährleistet. Eine Südamerika-Korrespondentin, die nicht namentlich genannt werden möchte, hat mit Menschen vor Ort gesprochen, die für und gegen den Frieden sind. Sie denkt, dass eine erfolgreiche Eingliederung stark von den sozialen Gruppen abhängen wird: „Die Rebellen müssen aktiv ins gesellschaftliche Leben miteinbezogen werden.“
Im Friedensprozess werden dazu einige Projekte organisiert: In den Camps wurde Internet eingerichtet, die Bewohner lernen sich wie „normale Leute“ die Zeit zu vertreiben, zum Beispiel auf Facebook oder YouTube. Die Begeisterung lässt nicht lange auf sich warten – jetzt, wo sie nicht mehr kämpfen, haben die ehemaligen Kämpfer eine Menge Zeit. Seit einigen Monaten können Interessierte die Übergangszonen der EX-Guerilla außerdem besuchen und so in Kontakt mit den Bewohnern treten. Was die berufliche Zukunft der FARC angeht, soll es bald einen Studiengang geben, der inhaltlich an ihren Mitgliedern ausgerichtet ist und Plätze für die Ex-Kämpfer garantiert. Der Staat versucht zudem, Arbeitgeber davon zu überzeugen, FARC-Anhänger einzustellen. Auf alles was fernab des kolumbianischen Regenwaldes kommen mag, werden die Camp-Bewohner derweil mit Unterrichtseinheiten vorbereitet.
Gefürchtete Paramilitärs: neue Gefahr für den Frieden
Aber das ist nur die eine Seite des Friedensprozesses. Auf der anderen sieht es weit schwieriger aus. Denn ungeplante Vorgänge blockieren ein Vorankommen: Im Mai hat das Verfassungsgericht auf Initiative der Oppositionspartei zwei essenzielle Regelungen für den Friedensprozess annulliert. Die Entscheidung gilt als ernsthafte Bedrohung für den weiteren Verlauf, weil sie dem Parlament erlaubt, an Punkten des vereinbarten Abkommens Änderungen vorzunehmen. Befürworter des Abkommens befürchten eine Welle von Änderungen, die FARCS fühlen sich unsicher. Auch deshalb, weil das Gericht noch dazu einem Dekret die Gültigkeit abgesprochen hat, dass ihre Sicherheit erhöhen sollte. Eine weitere Gefahr für die Stabilität des Abkommens sind abtrünnige Guerilleros, die sich dem Ruf des Friedens nicht anschließen wollen, sondern weiterkämpfen. Im Januar schätzte das kolumbianische Verteidigungsministerium sie auf ca. 200 bis 300 Personen, Ende April gehen Schätzungen einer NGO von circa 400 aus. Die Deserteure sind in den blühenden Drogenhandel involviert oder schließen sich anderen kriminellen Gruppen an und destabilisieren die Situation auf diese Weise: Erst im April wurden ausländische Touristen tagelang gekidnappt. Später sagte einer von ihnen gegenüber den Behörden, FARC-Kämpfer hätten sie festgehalten.
Wegen solcher Geschehnisse stellt sich die Frage, ob das Abkommen – selbst wenn es halten sollte – einen dauerhaften Frieden schaffen kann. Denn neben der FARC gibt es noch zahlreiche andere, gewalttätige Gruppen im Land wie die ultrarechten Paramilitärs, Drogenhändler, Banden ehemaliger Soldaten und die bislang nicht demobilisierte kleinere Guerilla „ELN“, um nur einige zu nennen. Die befragte Journalistin ist im Januar deshalb der Meinung gewesen: „Frieden mit der FARC bedeutet nicht automatisch Frieden in Kolumbien. Es wird ein gefährliches Machtvakuum entstehen.“
Ein Vakuum, weil die FARC vielen Gebieten in der Vergangenheit im Prinzip das staatliche Monopol ersetzte, vor allem auf dem Land. Ihre Vermutung scheint sich zu bestätigen: Andere kriminelle Organisationen sind in die ehemaligen Zonen der FARC vorgedrungen, allen voran die gefürchteten Paramilitärs. In der Region Chocó nahe der Pazifikküste reklamierten sie Zeugenberichten zufolge den Machtanspruch der einstigen Farc-Gebiete für sich. Die gewalttätigen Militanten verbreiten dermaßen Angst und Schrecken, dass in der Folge hunderte Bewohner die Flucht dort ergriffen haben, wo sie sich installieren. Einige Menschen erinnern diese Geschehnisse an vergangene, gescheiterte Friedensprozesse mit der linken Guerilla.
Zu einem akuten Sicherheitsproblem ist der Frieden mit der FARC für Menschenrechtsaktivisten geworden: Seit dem 1. Dezember, als der Friedensvertrag vom Kongress verabschiedet wurde, wurden 36 Aktivisten laut dem Onlineportal ¡pacifista! ermordet – das letzte Opfer, Bernardo Cuero Bravo, vor einer Woche. Die Menschenrechtsorganisation ask! deklarierte das kampfbereite Gefüge in Kolumbien aus dem Grund schon Ende 2016 als größte Herausforderung für den Frieden. Sven Schuster sieht das ähnlich. Er war schon damals der Meinung, dass es in den ländlichen Gebieten erst Frieden geben kann, wenn der Staat auch dort präsent ist: „Die Polizei muss die Rolle der FARC als Schutzmacht übernehmen und die Leute schützen.“ Ein erster Schritt in diese Richtung soll demnächst gegangen werden: Der Präsident plant eine Sondertruppe von 2.500 Beamten in die Gebiete zu schicken, die vorher von den Rebellen kontrolliert wurden. Sie sollen dort die Paramilitärs bekämpfen. Trotz solcher Maßnahmen: Von der Vorstellung eines Happy Ends wie im Märchen scheinen sich viele nur rund ein halbes Jahr nach Annahme des Friedensvertrags verabschiedet zu haben, die Realität hat sie desillusioniert.
„Die Chance auf einen dauerhaften Frieden ist 50:50“
Friedensprozesse in anderen Ländern zeigen, dass solche Transformationen langwierig sind und über Jahre dauern – deshalb ist es nach einem halben Jahr schwierig zu sagen, ob der Friedensprozess eine dauerhafte Überlebenschance hat. In Kolumbien muss man sich aber fragen, ob er überhaupt ausreichend Zeit haben wird, sich unter Beweis zu stellen: 2018 stehen Präsidentschaftswahlen an. Diese schätzt Kolumbienexperte Schuster Anfang des Jahres als weitere Gefahr für den Friedensprozess ein: „Die Rechten sagen offen in den Medien, dass sie nicht zufrieden sind. Sie werden das Abkommen im Wahlkampf benutzen und damit werben, den Frieden rückgängig zu machen, wenn sie gewinnen.“ Aber nicht nur „die Rechten“ sind auf Kriegsfuß mit dem aktuellen Friedensprozess: Laut Medienberichten will keine der Oppositionsparteien den Vertrag in seiner jetzigen Form fortführen. Und Präsident Santos kann mittlerweile nicht einmal mehr mit einer 20 prozentigen Unterstützung aus der Bevölkerung rechnen. Keine rosigen Aussichten für den Frieden nach den Wahlen.
„Ich denke, die Chance auf einen dauerhaften Frieden ist 50:50. Um nachhaltige, stabile Strukturen zu schaffen, müssen die ursprünglichen Gründe des Konfliktes angegangen werden. Die Ländereien, die aktuell von Paramilitärs besetzt werden, müssten enteignet und an die Opfer verteilt werden. Eine umfassende Entschädigung der Opfer generell ist sehr wichtig“, so Schuster noch im Januar. Laut Vertrag sind solche Maßnahmen vorgesehen. Für den Erfolg des Prozesses müssten diese also konsequent umgesetzt werden. In einem Punkt sind sich die Südamerika-Journalistin und der Kolumbienexperte einig: Ein Frieden mit der FARC ist möglich, aber das Abkommen alleine reicht dafür noch nicht.
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