“Manchmal reden Erwachsene davon, wie schön es war, ein Kind zu sein,
sie träumen sogar davon, wieder eins zu sein.
Aber wovon haben sie geträumt, als sie Kinder waren?
Ich glaube, sie träumten davon, endlich erwachsen zu sein.”
(Cornelia Funke – Vorwort aus dem Roman „Herr der Diebe“)
Einmal saßen wir zusammen im Religionsunterricht in der 12. Klasse und unsere Lehrerin stellte uns folgende Frage: “Was wollt ihr nach der Schule machen?” Die Antworten kamen schnell: Medizin studieren, Deutsch und Bio auf Lehramt, BWL, Soziologie, ein FSJ, am liebsten im Ausland… Es gab zahlreiche Pläne und Ideen und den Wenigsten fiel es schwer, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Doch unsere Lehrerin schien damals nicht zufrieden zu sein mit diesen Antworten. Sie hat uns eine Weile angeschaut und dann sagte sie:
“Und jetzt stellt euch einmal vor, ihr seid unabhängig von all den Erwartungen um euch herum, von der Gesellschaft, euren Eltern und Freunden. Es ist nicht wichtig, wie viel ihr einmal verdienen werdet und ob ihr überhaupt einen Arbeitsplatz bekommen werdet. Was wollt ihr nach der Schule machen?” Was darauf folgte, war ein sehr langes, teilweise bedrücktes, aber teilweise auch nachdenkliches Schweigen. Denn ohne, dass wir den Umschwung im Gespräch so wirklich mitbekommen haben, hatte sie uns nach unseren Träumen gefragt. Es hat lange gedauert, bis sich ein Mädchen vorsichtig gemeldet hat und meinte, sie würde dann gerne Kunst studieren.
Warum so sprachlos wenn’s um Kindheitsträume geht?
Die Frage nach unseren Kindheitsträumen hatte uns schlichtweg aus der Bahn geworfen. Niemand hatte eine spontane Antwort. Vielleicht liegt das daran, dass wir es einfach nicht gewohnt sind, danach gefragt zu werden und dass jemand dann auch noch eine ehrliche Antwort erwartet. Es gehört zum Erwachsenwerden dazu, dass man sich im Laufe seines Lebens gewissen Realitäten, Erwartungen und einer Machbarkeit stellen muss. Und wer im Kindergarten noch fest davon überzeugt war, er oder sie werde mal Profifußballer oder Prinzessin, muss irgendwann feststellen, dass dazu vielleicht einfach das notwenige Talent oder die richtigen Vorfahren fehlen. Einer kindlichen Fantasie sind andere Grenzen gesetzt.
Für sie erscheint oftmals vieles möglicher und einfacher, doch es will die Natur, dass sich dem Prozess des Erwachsenwerdens niemand entziehen kann. Hat Cornelia Funke vielleicht Recht, und viele Erwachsene träumen tatsächlich davon, wieder ein Kind zu sein? Aber wonach sehnen sie sich denn zurück? Nach der Einfachheit ihrer Weltsicht, danach, nie weiter als bis zum Nachmittag denken zu müssen oder, dass nach einem großen Schokoladeneis auch der schlechteste Tag vergessen sein kann? Trotzdem reden viele Erwachsene, gerade wenn es um die Ideen und Träume aus ihrer Kindheit geht, gerne auch von kindlicher Naivität. Und allzu oft leben wir in einer Gesellschaft, die Kindheitsträume gerne als Leichtsinn abtut und es gern hat, wenn sich Menschen anpassen.
Das Erfolgs-Chamäleon
Je mehr wir uns in den sozialen Netzen der Gesellschaft verfangen, desto mehr Erwartungen, Ansprüchen und Einschränkungen begegnen wir. Wer da unbeschadet weiterkommen will, ändert schnell mal seine Meinung, Interessen oder eben, wie ein Chamäleon, gleich die ganze Farbe. Mit dem Strom schwimmen ist immer leichter! Auf solchen Wegen kommt man gut voran. Aber es bleibt die Frage, ob man dann auch noch an sein eigenes Ziel gelangt oder nur an das der anderen.
Auf die zunehmende berufliche Unsicherheit, durch befristete Arbeitsverträge, die vielen offenen Bildungs- und Erziehungsfragen und die wachende Altersarmut, haben wir mit einer neuen Sortierung unserer Werte geantwortet. Es hat einen sogenannten „Wandel des Wertewandels“ gegeben, wie es der Soziologe Helmut Klages nennt. Uns, gerade in der jungen Generation, sind Werte wie Sicherheit, Beständigkeit und Pflichtbewusstsein wieder deutlich wichtiger geworden. Es gebe für uns einfach keinen Grund mehr, nach Werten wie Autonomie oder Selbstverwirklichung zu streben, so Klages. Uns steht die Welt offen und gleichzeitig fehlt es uns zwischen all den Möglichkeiten an Orientierung.
Fallen dem Orientierungs-Wandel unsere Träume zum Opfer?
Es macht fast ein bisschen den Eindruck, als sei für den Luxus, sich seine Träume zu erfüllen, dabei kaum noch Platz. Und ist es nicht auch so, dass die Träume unserer Kindheit oft noch ein bisschen mutiger daherkamen, als die angepassten Vorstellungen, die wir im Laufe des Erwachsenwerdens entwickeln. Kindheitsträume sind oft radikaler und weniger abgesichert, weil wir uns damals am Beginn unseres Lebens vielleicht noch nicht so verantwortlich gefühlt haben für den Rest der Welt und unser Leben? Waren wir nicht alle mal ein bisschen mutiger und naiver als heute? Vielleicht gehört das Anpassen unsere Träume heute einfach dazu. Vielleicht sind wir eine Generation, die keine Risiken mehr eingehen möchte und lieber auf der sicheren Seite bleibt.
Aber wenn ich mich so umschaue, bei meinen Freunden und ehemaligen Mitschülern, die dieses Jahr Abitur gemacht haben, dann kann ich das auch nicht so recht glauben. Da gibt es die Kindheitsträumer, die mit einem Abi-Durchschnitt von 2,3 um einen Studienplatz für Medizin kämpfen. Da sind die, die an eine Schauspielschule gegangen sind oder jetzt Kunst studieren. Und ich denke, sie haben unsere Bewunderung und unseren Respekt verdient, weil sie den vielleicht schwierigeren Weg gewählt haben.
Träume im Wandel der Zeit …
Aber es gibt eben auch die Anderen. Die, die BWL, Jura oder Geschichte studieren. Die, die eine Ausbildung in einer Werbeagentur machen. Sind die wirklich weniger mutig? Oder vielleicht angepasster? Werden sie zwangsläufig unglücklicher werden, als diejenigen, die heute ihre Kindheitsträume leben? Wohl kaum. Denn mit der Entwicklung ihrer Persönlichkeit, mit dem Festmachen ihrer Werte und Überzeugungen, haben sich nicht nur sie verändert, sondern eben auch ihre Träume. Und vielleicht sollten wir ihnen mit der gleichen Bewunderung entgegentreten. Denn es gehört doch mindestens genau so viel Mut dazu, sich einzugestehen, dass nicht jede Idee, die man hatte, unbedingt in die richtige Richtung geht. Und am Ende sind wir doch alle nur auf der Suche nach dem Happyend. Egal ob mit oder ohne Kindheitsträume…
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