Bildung schafft Zukunft – zumindest in den industrialisierten Staaten der Welt. In vielen anderen Ländern kann man Generationen von jungen Menschen beobachten, die kämpfen müssen, nicht nur für qualitative Bildung, sondern auch für gerechte Chancen nach dem Abschluss. Unser Autor berichtet aus Mexiko, einem Land, in dem immer mehr Studenten trotz fehlender Kernkompetenzen und Überlastungen der Universitäten zum Studium zugelassen werden, der Arbeitsmarkt eine fundierte Ausbildung bestraft und Jugendliche trotzdem nicht resignieren und versuchen, das Beste aus dem zu machen, was ihnen gegeben ist.
An der Außenfassade der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universidad Autónoma de Zacatecas (UAZ) prangt eine Skulptur, die auf den allgemeinen Betrachter sehr bedrückend wirkt. Allem Anschein nach windet sich ein Mensch in Schmerzen. Allerdings ist es nicht irgendein Mensch, sondern der griechische Titan Prometheus, der laut der griechischen Mythologie die Menschen erschuf und ihnen das Feuer brachte. Prometheus’ Feuer ist hier als Symbol für Bildung zu verstehen, denn wie Feuer kann Bildung Licht, in Form von Erkenntnis und Orientierung, zum Beispiel in Hinsicht auf Chancen für eine bessere Zukunft, geben. Diesem Anspruch gerecht zu werden ist schwierig, denn im mexikanischen Hochschulwesen setzen sich die zahlreichen Probleme des Schulsystems fort. Zum Beispiel ist eine Vergleichbarkeit der Schulabschlüsse unmöglich. Also waren viele Universitäten gezwungen, Aufnahmetests einzuführen, die Erstaunliches zutage förderten: Einige Bewerber, die zwölf Schuljahre vollendet haben, konnten zwar laut lesen, aber nichts von dem verstehen, was sie da gerade aussprechen. Mit dem Schreiben verhält es sich ähnlich und viele haben große Probleme mit Additions- und Subtraktionsaufgaben.
Studienbewerber mit unzureichenden Fähigkeiten werden trotzdem zugelassen
Die logische Konsequenz wäre natürlich, diejenigen, die nicht die notwendigen Fähigkeiten für ein Bestehen des Studiums haben, abzulehnen. Aber die Universitäten sind sich nicht nur ihres Bildungsauftrags bewusst, sondern sehen es auch als ihre soziale Aufgabe, Jugendliche von der Straße zu holen, oder sie durch Beschäftigung im Studium bis auf Weiteres davon abzuhalten, auf dumme Gedanken zu kommen. Die hiesige Universität hat in den letzten vier Jahren die Anzahl der Studenten um 15 Prozent erhöht. Die international anerkannte Universidad Nacional Autónoma de México, von vielen als die beste Universität Lateinamerikas bezeichnet, beherbergt 316.000 Studenten. Im Vergleich mit der größten Universität in Deutschland, der Universität zu Köln, die nur 50.000 Studierende betreut, werden einem erst die Ausmaße so wirklich klar. Natürlich kann man sich denken, was passiert, wenn sich die Universitäten mit Studenten überladen: Weniger Zeit und Ressourcen für jeden Einzelnen. Von individueller Förderung, die für viele notwendig wäre, möchte man hier träumen. Das Leistungsgefälle ist sehr groß und weil die Lehre auch die Lernschwachen mitnehmen wollen, fühlen sich Leistungsstärkere oft unterfordert.
Finanzielle Sorgen und miserable Aussichten zwingen viele zum Abbruch des Studiums, Studenten sind für ihre Familien teuer. Viele Jugendliche klagen über ein permanentes schlechtes Gewissen ihren Familien gegenüber, weil diese ihnen das Studium finanzieren, obwohl sie sich schon ohne diese zusätzliche finanzielle Last mit Existenzproblemen herumschlagen müssen. Einer dieser Abbrecher erzählte, dass er in der Schule der absolute Überflieger gewesen sei, trotz schwieriger Startvoraussetzungen: er wurde in eine arme Familie, die in einem sehr einfachen Dorf wohnte, hineingeboren. Neben seinen schulischen Leistungen war er sportlich und beliebt, vergaß aber auch nie, sich um seine Geschwister zu kümmern. Seine Abschlussnote war die Beste des Jahrgangs. Er bestand den Einstellungstest als einer der wenigen aus wirklich schwierigen Verhältnissen und auch seine Leistungen im Studium waren überdurchschnittlich gut, weil er hart dafür arbeitete.
Doch immer, wenn er seine Familie besuchte, wurde ihm klar, dass sein Studium, gegen das seine Eltern von Anfang an opponiert hatten, die Lebensbedingungen seiner gesamten Familie in großem Maße beeinträchtigten. Er arbeitete bereits neben dem Studium, um die Schuldgefühle seiner Familie gegenüber zu bekämpfen, bis er das Studium abbrach. Heute trifft er seine alten Freunde aus der Uni jeden Tag wieder – wenn er versucht ihnen Tacos zu verkaufen. Bezahlt wird er er nach dem mexikanischen Mindestlohn: 2,80 pro Tag. Aber was ihn wirklich dazu bewegte, vor anderthalb Jahren sein Studium hinzuwerfen, war die Perspektive, die er nach dem Studium haben würde: keine.
Der mexikanische Arbeitsmarkt – nichts für Akademiker
Torpediert wird diese Tendenz durch die allgemeinen Lage auf dem Arbeitsmarkt, denn eine Entwicklung scheint es nur im Niedriglohnsektor zu geben, weil damit die Arbeitslosenstatistiken am effektivsten verschönert werden können. Viel helfen tut das den Mexikanern nicht: 53,3 Millionen von ihnen gelten als arm. Dazu zählt jeder, der in urbanen Räumen weniger als 66 Euro und auf dem Land weniger als 47 Euro im Monat verdient. Außerdem sind weitere 40,7 Millionen Mexikaner „armutsgefährdet“ („Armutsmessung in Mexiko und seinen föderalen Gebietseinheiten 2012“). Folglich können nur 20 Prozent der Mexikaner ohne finanzielle Sorgen leben.
Nach dem Studium folgt Arbeitslosigkeit – oder Ausbeutung
In Zacatecas sind die einzigen Arbeitgeber, die einen Abschluss der Universität besonders berücksichtigen, die Universität selbst und verschiedene Regierungsbehörden. Eine Lehrerin für Deutsch erzählte mir, dass sie eigentlich Jura studierte und sogar einen sehr guten Abschluss gemacht hat. Sie bekam prompt ein Angebot von ISSTE, einer Regierungsbehörde, die ihr eine Stelle als Abteilungsleiterin anbot. Jedoch war die Bezahlung für diesen Vollzeitjob um einiges geringer als der Betrag, den ihr die Uni für zwei Stunden Deutschunterricht in der Woche während ihrer Studienzeit überwies. Da es so wenig Arbeitsplätze und so viele Arbeitslose und Arme gibt, machen die Personalchefs mit den verfügbaren Jobs was sie wollen und halten die Absolventen, die sich und ihre Familien im Laufe des Studiums zumeist verschuldet haben, auf einem Lohnniveau, das mehr als ungerecht ist. Die “hohen Tiere” erhalten im Gegenzug weitaus großzügigere Bezüge. Der Großteil der Studenten hat jedoch trotz eines akademischen Abschlusses keine Aussicht auf ein Jobangebot, nicht einmal auf eine schlecht bezahlte Anstellung. Ausgeschlossen davon sind Bereiche, in denen ein Universitätstsabschluss gar nicht gefragt ist und dementsprechend auch unmenschlich bezahlt wird. Diesen Jugendlichen scheint das Studium kaum genutzt zu haben, auf jeden Fall können sie davon nicht leben.
Trotz positiver Lebenseinstellung – In Mexiko haben Studenten keine Chance auf Selbstverwirklichung
Die Studenten von heute sind enttäuscht und blicken pessimistisch in die Zukunft. Denn Mexikos Probleme sind in ihren Augen zu komplex und zu viele Menschen profitieren von den korrupten und ausbeuterischen Systemen. Deswegen bewerten sie die Aussichten auf positive Veränderung durch aktiven Widerstand als gering. Stattdessen nimmt das Interesse an Fremdsprachen in den letzten Jahren stetig zu, weil viele hoffen, im Ausland das zu finden, was ihnen in Mexiko verwehrt wird: eine Chance auf ein sorgenfreies Leben in finanzieller Unabhängigkeit. Die mexikanischen Studenten wissen, dass ihr Abschlusszeugnis vielleicht nicht einmal das Papier wert ist, auf dem es steht. Ungeachtet dieser Befürchtung ist ihnen aber der wahre Wert dessen bewusst, was sie an Wissen und Erfahrungen in der Studienzeit sammeln. Und trotz all dieser Sorgen genießen sie ihr Leben, gehen gerne und ausgelassen feiern und geben die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht auf.
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