Welchen Stellenwert hatten behinderte Menschen in der Vergangenheit? Wie stellt sich die Situation rund um Schwangerschaftsabbrüche dar? Und wie werden Menschen mit Handicap in der heutigen Zeit behandelt? Eine Reise durch die Zeitgeschichte, Teil 2.
Den 1. Teil verpasst? Hier kannst Du ihn nochmal nachlesen!
Weimarer Reichsverfassung und „My Body, My Choice“
Der Paragraph 218 wurde auch von der Weimarer Reichsverfassung fortgeführt. Dennoch wurden auch hier schon in Regierungskreisen Gespräche bezüglich einer Liberalisierung und etwaigen Verhütungsmethode geführt. Infolge des verlorenen ersten Weltkrieges kam es zu einem hohen Verlust an Männern. Dies führte zu einem Erstarken des weiblichen Flügels der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Sie wurden insbesondere durch die vollständige Legalisierung der Abtreibung in der neu entstandenen Sowjetunion ermutigt. Hier erwiesen sich Hunger und Armut als eine starke Triebkraft.
Auch die KPD versuchte hier, eine „Lösung durch Abtreibung“ zu propagieren. Dies ist insbesondere an ihren Parolen wie: „Schon im Mutterleib hungert der kleine Proletarier“ zu erkennen. Im Vordergrund steht an dieser Stelle jedoch nicht die Bekämpfung des Hungers, sondern vielmehr die Annahme, ein ungeborenes Kind vor dem drohenden Hunger bewahren zu können. Bestärkt durch das neue Wahlrecht, auch für Frauen, wurde auch ein Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung propagiert.
Aufgrund der langen Abwesenheit ihrer Männer während des Krieges, hatten viele von ihnen sich anderen Männer zugewandt. Die daraus entstandenen Kinder wurden schnell als Last empfunden und so suchten sie nach einer Möglichkeit, sie schnell beseitigen zu können. Der Kinofilm aus dem Jahre 1918 mit dem Titel: „Sündige Mütter“, schildert die bestehende Problematik eindrucksvoll. Käthe Kollwitz (08. Juli 1867 – 22. April 1945), brachte ihre Gesinnung 1924 auf Plakaten mit der Aufschrift: „Nieder mit dem Abtreibungsparagraphen“ zum Ausdruck.
Es wäre in dieser Zeit besser gewesen, den Hunger zu bekämpfen, anstatt zu verlangen, unschuldige Kinder zu töten. Gefordert wurde schon hier, den Paragraphen ersatzlos zu streichen oder wenigstens straffrei zu stellen oder zu mildern. Die SPD forderte bereits 1920 eine Straffreiheit von Abtreibungen innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate. Die KPD ging mit ihren Forderungen noch weiter. Auf ihren Plakaten waren die berüchtigten Forderungen, die wir auch heute noch auf den „Märschen für das Leben“ lesen können, abgebildet. Es waren Parolen wie: „My Body, My Choice“, oder: „Dein Bauch gehört dir“. Dies hatte zur Folge, dass im Jahr 1926 lediglich das Strafmaß reduziert wurde. Es ist mehr als selbstbezeichnend, dass sich Gruppierungen, wie die Antifa oder andere, sich bewusst in die Tradition derartiger Parteien stellen.
Massenmord und Zweiter Weltkrieg
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurden schließlich geborene behinderte Menschen als eine Last, die es zu beseitigen gilt, empfunden. So erließ das Deutsche Reich am 14. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Dieses Gesetz bevollmächtigte Ärzte dazu, psychisch Kranke, geistig Behinderte, Alkoholiker etc… einer Zwangskastration oder Sterilisation zu unterziehen. Ihre Motivation bestand darin, zu vermeiden, dass sich sogenannte „schlechte Gene“ auf die nächste Generation übertrugen. Eine eugenische Motivation stand hier im Vordergrund. Das Gesetz wurde am 26. Juni 1935 erweitert und ermöglichte die „freiwillige“ Kastration von Männern, um sie von einem entarteten Geschlechtstrieb zu befreien. Es definierte zugleich die Entfernung der Keimdrüsen.
Damit wurde auch die Eierstockentfernung von Frauen sowie die Zwangsabtreibung von „erbkranken Müttern“ eingeführt. Es fanden Zwangsabtreibungen bis zum sechsten Monat statt. Adolf Hitler (20. Januar 1889 – 30. April 1945) gab am 1. September 1939, an dem Tag an dem der Zweite Weltkrieg begann, den direkten Befehl zur systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderung. So wurde einerseits der Abtreibungsparagraph verschärft, aber andererseits begann so ein systematischer Massenmord an geborenen behinderten Menschen.
Es wurden Ärzte und Gutachter bestimmt, welche anhand zuvor bestimmter rassischer Merkmale die Opfer bestimmten. Sie wurden zunächst unterteilt in Krankheit und Arbeitsfähigkeit. Zu vernichtende Erbkrankheiten waren: Schizophrenie, Epilepsie, Encephalitis, Schwachsinn, Paralyse, Chorea Huntington, Menschen mit seniler Demenz sofern sie nicht oder nur noch mit mechanischen Arbeiten beschäftigt werden konnten, Personen die schon fünf Jahre oder länger in der Anstalt waren, kriminelle Geisteskranke, Ausländer. Durchgeführt wurde die Aktion in einem Zeitraum von 1940-1941. Der „Aktion T4“ fielen mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen zum Opfer.
Am 3. August 1941 predigte der Bischof Münster Clemens August Graf von Galen in der St. Lamberti Kirche bei Münster: „Es handelt sich hier um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht, zu leben, so lange wir produktiv sind, solange wir von den anderen als produktiv anerkannt werden?“ Diese Predigt wurde in unzähliger Weise abgedruckt und unter katholischen Kleingruppen im gesamten Deutschen Reich verbreitet. Das Regime vertrat die Auffassung, dass ihre Versuche zur Geheimhaltung gescheitert waren. Die „Aktion T4“ wurde unterbrochen, aber im folgenden Jahr mit wesentlich geringeren Opferzahlen fortgesetzt.
Der bestehende Paragraph 218 behielt in der gesamten NS-Diktatur seine Wirkung. Jedoch konnten Frauen ab 1940 bei einer vermuteten Erbkrankheit des Nachwuchses zu einem Abbruch der Schwangerschaft gezwungen werden. Ab 1943 drohte durch die „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft beim Schwangerschaftsabbruch von gesunden, arischen, deutschen Kindern sogar die Todesstrafe. Die Abtreibung nicht-arischen Nachwuchses wurde straffrei. Zum Ende des Krieges erfolgte noch ein Erlass des „rassisch minderwertigen Nachwuchs“ durch die Vergewaltigung von Sowjetsoldaten. Die Militärregierungen der Siegermächte hoben alle Nationalsozialistischen Strafverschärfungen nach der Deutschen Niederlage wieder auf.
Sexuelle Revolution und Behindertenrechtsbewegung
Im Jahre 1968 begann in der Bundesrepublik Deutschland die sexuelle Revolution. Hier propagierten linksorientierte Studentenbewegungen ein „Recht auf Geburtenkontrolle“. Sie betrachteten den Schwangerschaftsabbruch als „erweiterte Verhütungsmaßnahme“. Auch sie kämpften, wie wenige Jahre zuvor schon Käthe Kollwitz, für eine vollständige Streichung des Paragraphen 218. Dies geschah auch durch sogenannte „Selbstbezichtigungskampagnen“. wie im Jahre 1973, in den Frauen teilweise wahrheitswidrig behaupteten, selbst abgetrieben zu haben oder durch die Parole, welche schon die KPD in der Weimarer Zeit ausgegeben hatte: „Mein Bauch gehört mir.“ Das Lebensrecht der ungeborenen Kinder fand keine Berücksichtigung. Diese Forderungen fanden erstmals durch die neue sozialliberale Koalition im Herbst 1969 Gehör.
Der Beginn der Behindertenrechtsbewegung markierte ein Volkshochschulenkurs im Jahre 1973, den der Sozialarbeiter mit Muskelschwund Gusti Steiner gemeinsam mit dem Publizisten Ernst Klee in Frankfurt am Main ins Leben rief. Diese hatte zum Ziel, das Behinderte selbst lernen sollten, ihre Lage zu verbessern. Ihr Vorbild war die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, in der Schwarze um Gleichberechtigung kämpften. Analog zu deren Slogan skandierte Steiner auf Plakaten: „Behindertsein ist schön“, dieser wurde auch zum Titel seines Buches.
Er empfand seine Einschränkung als etwas Politisches, nicht als etwas Karikatives. Seine Gruppe war anfangs sehr klein, fand aber unter behinderten Menschen immer mehr Fürsprecher. Ihr wichtigstes Instrument war die Ausgabe eines „Behindertenkalenders“, dessen Cover stets das zeigte, was Steiner niemals sein wollte: „Unser Musterkrüppelchen – dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten.“ Sein Protest hatte zur Folge, dass der Deutsche Bundestag am 07. August 1974, dass sogenannte „Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation“ beschloss.
Recht auf Leben – auch für Ungeborene
Das erste Urteil zur Fristenregelung am 25. Februar 1975 gab einer Klage der Unionsparteien Recht und bestätigte entsprechend des Grundgesetzes, das Recht auf Leben auch für Ungeborene. Dies ist ihrer Auffassung nach in den ersten drei Monaten nicht gegeben, sofern es der freien Verfügungsgewalt der Frau ausgeliefert wäre. Auch die vorangehende Beratungspflicht betrachtete das Gericht als ungeeignet, um auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft hinzuwirken. Allerdings erkannte das Gericht erstmals Straffreiheit in Ausnahmefällen an, so zum Beispiel eine kriminologische, eugenische und soziale Indikation. Das Gesetz enthielt den Zusatz, dass ein Abbruch bis zum Ende der 22. Woche ebenfalls straffrei bleib. Damit erfuhr der Paragraph 218 erstmals – seit 1871 – eine Änderung.
Der größte Erfolg der Behindertenrechtsbewegung war die Störung der offiziellen Eröffnung des UNO-Jahres der Behinderten in der Dortmunder Westfalen Halle. Hier sollte Bundespräsident Karl Carstens eine Ansprache halten. Diese Ansprache wurde dadurch verhindert, dass sich Gusti mit einigen Mitstreitern auf der Haupttribüne festkettete. Steiner initiierte im Dezember auch das „Krüppeltribunal“ wegen Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat.
Er vertrat die Auffassung, dass Behinderte selbst über den Umfang ihrer Pflege und den benötigten Assistenzbedarf entscheiden sollten. Insbesondere kritisierte Steiner die Deutsche Bahn, da deren Bahnübergänge damals schon nicht barrierefrei gestaltet waren. Dies hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. So fehlen insbesondere für hörgeschädigte Menschen entsprechende Vorrichtungen zur Wahrnehmung wichtiger Durchsagen, eine ausreichende Beschilderung der Gleise in Blindenschrift sowie reizarme Räumlichkeiten für Personen mit sensorischen Einschränkungen. Insbesondere kritisierte Steiner die Aussonderung Behinderter innerhalb von sozialstaatlichen Regulierungsmaßnahmen.
In der Deutschen Demokratischen Republik bestand ein sogenanntes „Recht auf Abtreibung“ in den ersten drei Monaten. Nach der Wiedervereinigung am 03. Oktober 1990 galten in beiden Teilen Deutschlands hierzu unterschiedliche Regelungen.
Fraktionsübergreifender Kompromiss einer Fristenregelung
Nach dem fast zwei Jahre lang im wiedervereinigten Deutschland unterschiedliche Regelungen in Bezug auf den Abbruch einer Schwangerschaft gegolten hatten, einigten sich die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien schließlich auf einen gemeinsamen fraktionsübergreifenden Kompromiss. Diesem zufolge sollte ein Abbruch in den ersten zwölf Wochen nach der Befruchtung straffrei und überhaupt nicht rechtswidrig sein sollte. Dagegen jedoch klagten die Abgeordneten des Bayrischen Landtages erfolgreich beim Bundesverfassungsgericht.
Dieses definierte in seinem Urteil vom 28. Mai 1993 diesen Kompromiss erneut als verfassungswidrig. Ein Schwangerschaftsabbruch ist zu jedem Zeitpunkt rechtlich zu missbilligen und somit verfassungswidrig. Darauffolgend einigte sich der Deutsche Bundestag auf den Kompromiss, Schwangerschaftsabbrüche nach den ersten zwölf Wochen nach einer vorangegangenen Beratung und grundsätzlich bei einer medizinischen sowie kriminologischen Indikation zu billigen.
Der Deutsche Bundestag verabschiedete am 01. Juli 2001 ein neues Gesetz, um den Bedürfnissen und Ansprüchen behinderter Menschen gerecht zu werden. Es löste zugleich das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 07. August 1974 ab. Auch die Vereinten Nationen reagierten auf das gestiegene Bedürfnis nach Gleichberechtigung, mit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen am 13. Dezember 2006. Dieser Resolution zufolge sollen Betroffene nicht mehr als Kranke bezeichnet werden, sondern sie müssen als gleichberechtigte Partner wahrgenommen werden.
Fazit: (Behinderte) Kinder und Abtreibungen
Auffällig in der gesamten Geschichte der Schwangerschaftsabbrüche ist, dass ein Recht darauf häufig in einer Ära der sozialen Not propagiert worden ist. Statt soziale Notlagen, wie Hunger, Armut oder Krisen, effektiv zu bekämpfen mussten und müssen unschuldige Menschen darunter leiden. Aktuell erlebt die westliche Hemisphäre einen beispiellosen Kampf unterschiedlicher Wertauffassungen. In Bezug auf Behinderte wird immer ein „Recht auf Inklusion“ betont. Ich bin selbst davon betroffen. Doch wie das Seminar offengelegt hat, werden beispielsweise in Schweden kaum noch Menschen mit Down-Syndrom geboren.
Das Recht auf Inklusion beginnt vor der Geburt, es kann und darf niemals an sozialökonomische Bedingungen geknüpft werden. Bereits das Zwölftafelgesetz offenbarte eine soziale menschliche Überforderung mit Behinderungen. Doch dieses Römische Recht wird sich bestätigen. Es ist möglich, dass insbesondere unsere Werte des Respektes und des Mitgefühls in Zukunft schwinden werden. Sie werden schwinden, sofern kein Mensch mehr behindert geboren wird. Sie werden schwinden, sofern es gegen Behinderungen, die infolge von Krankheiten oder Unfällen entstehen, als vermeintlich einfache Lösung die Sterbehilfe geben wird. Ab diesem Zeitpunkt wird unsere Schwäche zur Last. Wir können noch nicht ahnen, welche gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen dies hätte.
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