Sum 41 haben sich eindrucksvoll zurückgemeldet. Mit ihrem neuen Album „13 Voices“ liefert die Band aus Kanada ein richtiges Rock-Brett ab, das man in ein paar Jahren vielleicht schon als ihr bestes Werk bezeichnen wird. Das hängt vor allem mit Sänger und Songwriter Deryck Whibley zusammen, einem Jungen, der ganz oben war und ganz tief gefallen ist. Einem Jungen, der trotzdem wieder aufstand – und kein Junge mehr ist. Von Rudolf Gehrig.
Eigentlich ist es gemein, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit meist auf den Sänger einer Band konzentriert. Mithalten kann vielleicht noch der coole Gitarrist mit seinen epischen Gitarrensoli, doch Bassisten und Schlagzeuger sind, sofern sie nicht selbst am Mikro stehen, für die Öffentlichkeit bestenfalls Beiwerk. Das ist bei Sum 41 nicht viel anders. Deryck Whibley ist Sänger, Gitarrist und Songwriter in einer Person. Knapp 1,70 klein, blonde Stachelfrisur, zusammengekniffene, grimmige Augen und dazu eine Stimme, die eigentlich wie geschaffen ist für sanft ins Mikrofon gehauchte Balladen. Doch das tut er äußerst selten. Stattdessen schrammelt der bekennende Metal-Fan lieber drei, vier schnelle Akkorde und plärrt seine Texte mit einer solchen Energie in die Welt hinaus, dass bei vielen, die die große Ära der Sex Pistols und der Ramones verpasst haben, die Hoffnung aufkeimt, dass Punk doch noch nicht tot ist. Als er mit seinem Kumpel Steve-O 1996 im zarten Alter von 16 Jahren die Band Sum 41 gründete, hatten damals Green Day und Blink-182 bereits die Radiostationen erobert und sorgten mit ihren gutgelaunten Sommer-Sonne-Highschool-Sound dafür, dass schwere Stromgitarren-Musik salonfähig wurde. Sum 41 sprangen auf diesen Zug mit auf und hatten mit dem Album „All Killer No Filler“ ihren ersten Durchbruch. Seichter Skatepunk war angesagt und so kletterten die Kanadier in den Charts immer weiter nach oben.
Doch das Unglück ließ nicht lange auf sich warten. Als Green Day im Jahr 2004 ihr Jahrhundert-Album „American Idiot“ auf den Mark brachten, veröffentlichten Sum 41 mit „Chuck“ ihr bislang bestes Werk. Genau wie bei ihren kalifornischen Vorbildern verabschiedeten sie sich vom seichten Geträller und wurden nun auch in ihrer Musik politisch. Dann tauchte Avril Lavigne auf und bandelte mit Deryck Whibley an. Die aufstrebende Pop-Diva und der rotzfreche Nachwuchs-Punk – eine Traumhochzeit, wie geschaffen für die Boulvardmedien. Doch dann verließ Gitarrist Dave Brownsound die Band und auch andere Weggefährten von Whibley kritisierten, Avril Lavigne würde zu viel Einfluss auf dessen Musik nehmen. Mit „Underclass Hero“ orientierte sich die Band 2007 schon sehr stark an der Popmusik, wenngleich die Verkaufszahlen weiter sehr hoch blieben. Und dann war da der Alkohol. Whibley driftete immer weiter ab, glaubte, er könne ohne Alkohol im Blut keine Songs mehr schreiben. Er war Avril Lavignes „Sk8ter Boy“, bis sie sagte „See you later, Boy“. 2009 folgte die Scheidung.
Er war Avril Lavignes „Sk8ter Boy“
Zwei Jahre später erschien „Screaming Bloody Murder“, das im Vergleich zum Vorgänger weniger poppig, dafür ziemlich düster ist und insgesamt viele Fragen offen lässt. Wegen Whibleys Bandscheibenvorfall mussten Sum 41 einige Konzerte absagen. Im Mai 2014 dann der Tiefpunkt. Der Alkohol hat den Sum 41 Frontmann mittlerweile schon soweit zerfressen, dass er wegen Leber-und Nierenversagen ins Krankenhaus eingeliefert wird. Dieser Moment ist gleichzeitig der Wendepunkt. Whibley macht einen erfolgreichen Entzug und geht ein Jahr später mit der Band ins Studio, um am neuen Album zu arbeiten. Auch Dave Brownsound steht wieder auf der Matte. Nach seinem Ausstieg hatte er sich an einem eigenen Metal-Projekt versucht, doch mit seiner Rückkehr kommen auch die tonnenschweren Metal-Riffs inklusive der ausgefeilten Gitarrensoli zu Sum 41 zurück.
Doch nicht nur das Comeback von Brownsound macht sich auf dem 10 Tracks umfassenden Album „13 Voices“ bemerkbar. Der schmerzhafte Reifungsprozess, den Deryck Whibley durch seine Alkoholsucht beschreiten musste, ist in jeder Sekunde spürbar. „13 Voices“ kracht, es scheppert, es knallt, es wird brachial. Und doch wohnt dem Ganzen eine Zerbrechlichkeit inne, die man in der Form nicht von einer ehemaligen Skatepunk-Band erwarten würde. So ist zum Beispiel „War“ tatsächlich der ruhigste Song auf diesem Album, obwohl der Titel anderes vermuten lässt. Doch schon das dazugehörige Musikvideo, in dem der Ex-Alki Whibley vor einem dramatisch in Szene gesetzten Flugzeug-Wrack seine Vergangenheit (bestehend aus alten Chucks, einer kaputten Gitarre und einer leeren Flasche Jack Daniels‘) verbrennt, zeigt, in welche Richtung der Hase läuft. Auch musikalisch schlägt die Band in diesem Stück ganz andere Töne an, es klingt mehr nach Linkin Park denn nach Blink-182.
Abschied von Green Day, The Offspring und Blink-182
Ohnehin sind die Zeiten vorbei, in denen sich Sum 41 vorwerfen lassen mussten, nur ein billiger Abklatsch von Green Day, The Offspring oder Blink-182 zu sein. Ihr ganz eigener Stil, ihre erarbeitete musikalische Perfektion zeigt sich beispielsweise auch im neuen Song “Breaking The Chain”: Ein balladesker Einstieg mit Streichinstrumenten, der auch aus der Feder von One Republic stammen könnte, wenn er nicht von kurzen, heftigen Gitarreneinschlägen zerschnitten werden würde. Dann die erste Strophe und die Gelegenheit, Whibleys gesangliches Talent zu bestaunen. Eine wohlklingende, ruhige Stimme, die dem Hörer unweigerlich in die Atmosphäre eintauchen lässt, die dieser Song ausdrücken will: Da liegt jemand verlassen am Boden, weiß, dass er aus eigener Schuld dort angelangt ist, doch in einem unglaublichen Willensakt rafft er sich auf und beschließt die Kette zu zerreißen, die ihn bislang gefesselt hielt. Und so klingt auch der Refrain. „I’m breaking the chain from the life I knew, beaten black and blue, it’s time to be face to face with the lies I choose, throw the truth into the light.“ Der Zerbrechliche wird zum Kämpfer, sein Gesang wandelt sich zum Kampfesgebrüll. Und doch ist es mehr als wildes Rumgekloppe, selbst dann, als Brownsound mit einem bombastischen Solo einsteigt und sich die Synapsen im Hirn reflexartig zum Mosh-Pit aufstellen wollen. Alles klingt so verflixt melodisch und ganz und gar nicht nach dilettantischem Do-it-yourself-Punk.
Ohnehin hat sich bereits in den letzten Sum 41-Alben die Tendenz abgezeichnet, dass es rotzigen Garagen-Punk von dieser Band nicht mehr geben wird. Die Instrumente sind so perfekt aufeinander abgestimmt, ebenso die Zweit- und Drittstimmen, dass es kaum auffällt, dass auch dieses Album für eine Punk-Scheibe eigentlich viel zu perfekt abgemischt ist. Keine absichtlich kratzenden Verstärker, keine künstlichen
Rückkopplungen und auch kein Schlagzeuger, der meint, im Hintergrund die Songs im Stile der Ramones mit „One-two-three-four!“ anzählen zu müssen. Mit seinen zentnerschweren Gitarren-Riffs, den selbstkritischen, teils düsteren, aber nach vorne blickenden Lyrics und einer Gesangsstimme, die durchdringender ist als einlagiges Klopapier zerstören Sum 41 mit diesem Album die Illusionen gerade jener Fans, die auf eine Rückkehr zum Whohoohoo-Yeah-Trallalla-Highschool-Pseudorebellen-Pop-Punk im Stile von Green Day und Blink-182 hofften. Doch die rotznasigen Jungs von damals mit den Akne-Rückständen und dem ersten abrasierten Oberlippenflaum gibt es nicht mehr. Sum 41 gehen einen Schritt weiter und lassen sowohl das künstliche Rumgealber einer in der Adoleszenz stecken gebliebenen High-School-Band hinter sich, wie auch den für „echten“ Punkrock scheinbar essentiellen destruktiven Existentialismus. Stattdessen blickt man wieder nach vorn. Alkoholprobleme? Ehe in den Sand gesetzt? Midlife Crisis? Dem wiederauferstandenen Deryck Whibley scheint das egal zu sein. Voller Energie schreit er in die Welt hinaus: „…but I’m still alive!“ Und verspricht: „They say the fire in your heart is gone, but I say it’s really only just begun…“
Zukunftsmusik
Was die Zukunft bringt, bleibt abzuwarten. Doch während die Altmeister von Green Day am selben Tag, an dem „13 Voices“ erschien, ihr neues Album „Revolution Radio“ vorstellten und genau den vorhersehbaren, durchschnittlichen Mitgröl-Rock ablieferten, den man von ihnen erwartete, haben sich Sum 41 in der Krise ihres Frontmanns noch einmal neu erfunden und mit „13 Voices“ ein Album abgeliefert, das fasziniert und herausfordert, aber dennoch wahnsinnig gut ins Ohr geht. Ein Album, das schonungslos die verletzte Seele seines Schöpfers freilegt, ohne zu moralisieren oder zu belehren und stattdessen den Beweis liefert, dass man nicht zwingend alkoholisiert sein muss, um geile Songs zu schreiben. Es wird hoffentlich nicht der Schlusspunkt, sondern der Beginn eines neuen Kapitels in der Bandgeschichte von Sum 41 gewesen sein.
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