Was verstehen Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen eigentlich unter Ethik? Im Rahmen der Festwoche der theologischen Fakultäten, des altkatholischen Seminars und des Zentrums für Religion und Gesellschaft (ZERG) wurde anlässlich des 200. Geburtstags der Bonner Universität die Frage diskutiert, ob Ethik überall sei. Auch die Rolle von Religion und Theologie war Thema.
Wissenschaft hat den Anspruch, objektiv, wertungsfrei und mit nachvollziehbaren Methoden nach Wahrheit zu streben. Ist da überhaupt Platz für Ethik? Für Religion? Mit dieser provozierenden Frage leitete der evangelische Neutestamentler Dr. Günter Röhser die Podiumsdiskussion ein, die im Festsaal der Universität Bonn stattfand. Teilnehmer waren Frau Dr. Karin Holm-Müller, Prorektorin und Professorin für Ressourcen- und Umweltökonomik, Dr. Clemens Albrecht, Professor für Kultursoziologie und Dr. Volker Ladenthin, Professor für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft.
Drei Wissenschaften, drei Ethikansätze
Wie kann man die Umwelt im Kontext der heutigen Wirtschaft schützen? Diese ethische Frage treibt Frau Holm-Müller in der Umweltökonomie um. Es gehe dabei letztlich um Güterabwägung wie zum Beispiel bei der Frage danach, wie der Ausbau Erneuerbarer Energien mit dem Naturschutz zusammenzubringen ist.
Volker Ladenthin erinnert sich an die Achtzigerjahre als eine Zeit der alle Fächer umfassenden Moralisierung des Schulunterrichts. Nach den verheerenden Ergebnissen der Pisa-Studie von 2001 führte der Trend dann zum genauen Gegenteil: Moralische Erziehung wurde marginalisiert. In der Schule und in der Bildungswissenschaft sei Ethik demnach entweder überall oder nirgendwo.
Clemens Albrecht steht der Frage nach Ethik distanziert gegenüber, als Soziologe bevorzugt er das neutrale “Draufschauen” und plädiert für den Verantwortungsbegriff, wenn es um Ethik geht.
Ist ethisches Handeln dasselbe wie richtiges Handeln?
Auf Holm-Müllers Frage, wie man Schülern Ethik heute nahebringen soll, antwortet Ladenthin, dass angesichts der Überkomplexität vieler Probleme meist nicht ethisch, sondern taktisch gehandelt werde. Am Beispiel der Frage, ob es gut ist, billige T-Shirts zu kaufen, auch wenn die Produktionsbedingungen wahrscheinlich nicht gut waren, zeigt sich, dass die Folgen des eigenen Handelns oft nicht vorausgesehen werden können. Wer nur nach gerade gängigen ethischen Vorstellungen handelt, handele gerade nicht ethisch, denn dies setze die eigene Reflexion voraus.
Daher, meint die Umweltökonomin, sei es besser, nach dem Vorsichtsprinzip zu handeln in dem Bewusstsein, dass man auch falsch liegen könnte. Das sei besser als ein Handeln nach dem Motto “nach mir die Sinnflut” und wenn alles zu komplex ist, ist eh alles egal.
Albrecht plädiert erneut dafür, trotz der Unüberschaubarkeit ethischer Probleme jede ethische Entscheidung “auf die eigene Verantwortungskappe zu nehmen”.
Ladenthin ist das zu wenig: Guter Wille reiche nicht – wer verantwortlich entscheiden will, solle vor allem versuchen, sachlich richtig zu entscheiden. Darauf entgegnete Albrecht, dass es bei ethischen Entscheidungen gar keine sachlich richtigen geben könne, da diese einer komplett anderen Logik folgten. Wer handelt, höre auf zu reflektieren und dann höre auch die Ethik auf. Erst wenn man nach der Handlung etwa durch Gewissensbisse wieder zum Reflektieren kommt, setzt Ethik wieder ein. Dies sei im Menschen so angelegt.
Wie hältst du’s mit der Religion?
Hier kam nun auch die Religion ins Spiel: Frau Holm-Müller bezieht sich auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel, deren Botschaft es sei, dass es nie ein “Nur richtig”, sondern immer auch ein “Ja, aber” gebe. So wie Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies wüssten wir Menschen nämlich nicht, was Gott will, also müssten wir das ethisch Richtige selbst suchen.
Der Theologe Röhder war überrascht, wie schnell in der Diskussion die Religion thematisiert wurde, daher will er nach diesem ersten verbalen Schlagabtausch wissen, was die Diskutanten speziell von christlicher Theologie und Ethik für ihren jeweiligen Bereich erwarten.
Frau Holm-Müller ist der Meinung, dass Normen und Werte in unserem Kulturkreis noch immer am besten über das Christentum vermittelt werden. Drängende gesellschaftliche Probleme müssten nämlich gemeinschaftlich gelöst werden und christliche Motive wie die Nächstenliebe oder die Schöpfungsverantwortung seien immer noch weitgehend anerkannt. Diese müssten zwar nicht unbedingt christlich interpretiert werden, die Religion habe aber die Aufgabe, Anwalt solcher Werte zu sein, damit sie in der heutigen Gesellschaft nicht vergessen werden.
Ladenthin widerspricht, denn die Bindung an eine bestimmte Religion führe zu einer Partikularmoral, die keine universale Geltung mehr beanspruchen könne. Ethik und Religion müssten scharf getrennt werden; eine rein säkulare Ethik sei nötig. Religion und Metaphysik hingegen motivierten zu ethischem Handeln und sind in dieser Hinsicht unverzichtbar. Nicht zuletzt die Theologie könne dabei helfen, an der Endlichkeit zweifeln zu lassen und bei ethischen Entscheidungen so über die eigene Sterblichkeit hinaus zu denken, wie es etwa Eltern für ihre Kinder tun.
Albrecht geht so weit zu sagen, dass es für den modernen Menschen überhaupt keine allgemeingültige Ethik mehr geben könne. Als Soziologe versteht er die Gesellschaft als ein Ensemble vieler Teilsysteme – wie Politik, Medien, Wissenschaft –, die jeweils ihre eigenen Ethiken haben. Viele Menschen richteten sich vor allem nach dem Normsystem, das in ihrer jeweiligen Gruppe dominiere. Religion aber bevorrate einen letztgültigen Punkt, von dem aus ethisch geurteilt werden kann.
Theologie, die Frage nach dem Sinn und der Motivation zu ethischem Handeln
Der katholische Moraltheologe und Mitveranstalter des Abends, Professor Dr. Dr. Jochen Sautermeister, wirft die Frage in die Runde, ob nicht die Theologie die Frage nach dem Sinn, dem “Wozu das alles?” auch für die Wissenschaft wachhalten könnte. Ethik und Wissenschaften könnten gegenüber der Religion ideologiekritisch und Religion gegenüber den Wissenschaften sinnkritisch wirken.
Ladenthin stimmt dem zu und weist Religion und Theologie darüber hinaus die Aufgabe zu, auch kritisch gegenüber den empirischen Wissenschaften zu sein, die der Gefahr erliegen können, ihre Erkenntnisse absolut zu setzen.
Albrecht führt den Aufklärer Voltaire an, der sich gefragt habe, ob er seinem Diener sagen soll, dass Gott und die Religion keine Moral begründen können, auch wenn der Diener dann keinen Grund mehr hätte, seinen Herrn nicht zu beklauen. Daher solle man sich trotzdem fragen: “Was sagt Gott dazu?” “Fragen Sie die Theologen”, würde Albrecht als Soziologe auf Holm-Müllers Entgegnung antworten, wie man dies denn wissen könne. Im Gesamtsystem der Gesellschaft seien Theologen nämlich für diese Frage zuständig. Es gelte, ethische Problemstellungen “sub specie aeternitatis” (unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit) zu sehen, da dies bei der Entscheidungsfindung weiterhelfen könne. Inwiefern das konkret so ist, ließ er jedoch offen.
Hier half Frau Holm-Müller aus, die am Beispiel des Klimawandels dafür plädiert, über den Horizont der eigenen Endlichkeit hinauszudenken, auch wenn man nicht wissen könne, was wann letztlich passiert. Sie wirft aber auch ein: “Meinen Religionen mit Absolutheitsanspruch nicht zu oft genau zu wissen, was wahr ist?”
Ladenthin hält das grundsätzlich für die richtige Haltung, denn Vertreter einer Religion, die nicht glauben, was sie glauben, seien nicht glaubwürdig. Ohne Glaube könne man nicht gewiss handeln, aber der Glaube ist selbst nicht gewiss, daher könne man nur nach dem “Als ob” leben und entscheiden. Glaube solle gewiss sein, nicht aber die Ethik, die daraus folgt, denn die sei allein Sache der Vernunft.
Insgesamt haben die Vertreter der drei unterschiedlichen Disziplinen Religion und Theologie viel Wohlwollen entgegengebracht. Daher wäre es interessant gewesen, wenn auch ein streng faktenorientierter Naturwissenschaftler dieser Runde angehört hätte. Vielleicht hätte dieser die Rolle von Religion und Theologie noch schärfer hinterfragt und die Diskussion zum Themenfeld Wissenschaft, Ethik und Religion noch mehr herausgefordert. Entgegen des Meinungsbildes an diesem Abend wird der Theologie von Vertretern anderer Disziplinen nämlich nicht selten der Wissenschaftscharakter sowie die Legitimität ihrer Präsenz an staatlichen Universitäten abgesprochen. Und auch Ethiker kennen die Schwierigkeit, der Wissenschaftlichkeit ihrer Schlussfolgerungen gegenüber strengen Empirikern Geltung zu verschaffen.
Zum Schluss resümiert Frau Holm-Müller: Wie in der Wissenschaft nach Beendigung von Forschungsprojekten meist ein bleibender Forschungsbedarf ausgemacht werde, sei analog auch bei der komplexen Frage nach der Rolle von Religion und Ethik in Wissenschaft und Gesellschaft ein bleibender Diskussionsbedarf festzustellen. Ob Ethik überall ist und wenn ja wie, ist nach wie vor eine offene und spannende Frage.
[…] Beitrag im Online-Magazin f1rstlife vom […]