Norina lebt und studiert seit September 2023 in Jerusalem. In ihren Beiträgen der Reihe ‚Israel – das Abenteuer meines Lebens‘ lädt sie euch ein, an den unterschiedlichsten Erfahrungen und herausfordernden Gedanken dieser bemerkenswerten Zeit teilzuhaben. Auf einem Ausflug nach Galiläa im Mai 2024 besuchte sie mit ihren Eltern das Christian Village Nazareth, das Einblicke in die Lebensweise der Menschen zur Zeit Jesu gibt, und sah die Bibel vor ihren Augen lebendig werden.
Reise 2.000 Jahre zurück in die Vergangenheit
Größer kann der Kontrast nicht sein: enge, labyrinthartige Straßen, vollgestopft mit Autos, die sich den Hügel hoch- und herunterschlängeln, ein Mosaik an unterschiedlichsten Häusern, die keinerlei Stadtplanung erkennen lassen, Müll an jeder Straßenecke – und dann diese kleine Farm. Sie wurde archäologisch akkurat nach dem Vorbild der Lebensweise von vor 2.000 Jahren nachgebaut. Direkt unterhalb eines großen Krankenhauses und eingerahmt durch hohe Betonbauten, deren Balkone zur Beobachtung der kleinen Enklave geradezu auffordern, steht Nazareth Village.
Während wir unserem Reiseführer Nathaniel gebannt zuhören, verblasst die Umgebung vollständig. Wir befinden uns in einem Dorf, das dem Nazareth, in dem Jesus aufgewachsen ist, sehr nahekommt. Überhaupt werden auf der Führung nicht nur aktiv Parallelen zu Jesu Lehre und den Jahrtausende alten Prophetien gezogen. Schon allein, wie unser Reiseführer erzählt und uns über das Gelände führt, lässt einige Wesenszüge Jesu vor unserem Auge lebendig werden.
Der Hirte und seine Schafe
Gleich zu Beginn der Führung bittet uns Nathaniel, dass wir als Gruppe nah beisammen bleiben und zwar so, als würden wir uns alle ein Leben lang kennen. Denn das Gelände ist natürlich nicht an unsere modernen Sicherheitsstandards angepasst und wir haben einen Zeitplan einzuhalten. Wir sind genauso scheinbar zusammengewürfelt wie Jesu Jünger, kommen aus den unterschiedlichsten Ländern und haben zuvor noch kein Wort miteinander gewechselt. Nathaniel strahlt eine ruhige, humorvolle Autorität aus, mit der er uns geduldig beieinander hält. Er bittet uns, ihm zu folgen und die Wege nicht zu verlassen. Mit der Zeit wird immer klarer, dass es sich lohnt, nah bei ihm zu bleiben, um nichts von dem zu verpassen, was er zu erzählen hat. Bei der Gruppe zu bleiben, wird so wertvoller, als sein eigenes Ding durchzuziehen.
Pädagogisch geschickt ist eine der ersten Stationen beim Hirten Abraham (siehe Jesus, der gute Hirte: Johannes 10,1-30). Zu Jesu Lebzeiten war es gängig, Schafe und Ziegen in einer Herde zu halten, da sie ähnliche Bedürfnisse haben. Uns Besuchern wird aber der Wesensunterschied dieser Tiere plastisch vorgeführt, weil die kleine Herde sowohl Lämmer als auch Zicklein aufweist. Erstere suchen sofort Zuflucht bei ihrer Mutter im Gatter, als wir uns zu ihnen gesellen, während letztere es nicht lassen können, die Gegend weiter zu erkunden. Als Resultat bleiben die Zicklein so lange von ihrer Mutter getrennt, wie wir als Gruppe am Gatter stehen. Jeder Hirte kennt den Unterschied: Schafe sind sehr folgsam, Ziegen hingegen viel unabhängiger und mit sich selbst beschäftigt.
Einmal im Jahr kam die Zeit, wenn die Herde in die zwei Gruppen der Spezies aufgeteilt wurde. Hierauf nahm Jesus Bezug, als Er vom Gericht redete (Matthäus 25,31-46). Er wird die Schafe, die unablässig seiner Stimme gefolgt sind, auf die eine Seite stellen und die Ziegen, die unbedingt ihre eigenen Wege gehen wollten, auf die andere.
Der Spross aus dem Stamm Isais
Zuvor weist Nathaniel auf einen Vorgang in der Natur hin, der mich mein Verständnis von Prophetie überdenken lässt. Wie es sich für einen solchen Ort gehört, stehen überall Olivenbäume, Symbole der Hoffnung. Olivenbäume sind äußert robuste Pflanzen, die sogar an einen anderen Ort versetzt werden und dort wieder Wurzeln schlagen können. Selbst in dürren Jahren tragen sie zumindest ein wenig Frucht und Stürme können ihnen so schnell nichts anhaben. Sie werden problemlos 1.000 Jahre alt.
Unser Reiseführer macht uns auf kleine Sprösslinge neben dem ältesten Baum der Farm aufmerksam. Es handelt sich dabei nicht um neue Pflanzen, sondern Triebe des alten Baumes, die mit dem gleichen Wurzelwerk verbunden sind. Auf Hebräisch heißt dieser Spross Nezer (נצר), wovon möglicherweise der Dorfname Nazareth abgeleitet wurde. Damit führt uns Nathaniel zurück in die Prophetie Jesajas (11,1-10), in der der Spross aus dem Stamm Isais hervorkommen wird, auf dem der Geist Gottes ruhen und der sein Friedensreich bringen wird; Jesus, der Nazarener.
Nun verstehe ich, dass Gottes Prophetien keine Vorhersagen in einer prädestinierten Welt sind. Sie sind vielmehr Gottes Beweise, dass Er sein Wort zur rechten Zeit so ausführt, wie Er es angekündigt hat. Die Dinge passieren nicht einfach nach einem vorbestimmten Zeitlauf. Gott ist nach wie vor aktiv, interagiert mit seiner Schöpfung und handelt entsprechend des Wortes, das Er sich selbst gesetzt hat.
Das kostbarste aller Öle
Etwas später werden wir zu einer Ölpresse geführt, die sich auf Hebräisch Gat Shemanim (גת_שמנים – wörtlich: Kelter der Öle) nennt. Hier werden die Oliven zunächst von einem schweren Stein zerstoßen, dann in spezielle Körbe gefüllt und anschließend in einem dreistufigen Pressvorgang ihres kostbaren Öles entleert.
In der Nacht seines Verrats und seiner Überlieferung durch einen seiner engsten Freunde hatte Jesus auf dem Ölberg im Garten Gethsemane umgeben von diesen Bäumen der Hoffnung dreimal gebetet, sich dem Willen Gottes gebeugt (Matthäus 26,36-46). Anschließend wurde sein Körper bis zur Unkenntlichkeit zerstört und Er starb den Tod eines Gesetzlosen. Ein reicher, heimlicher Jünger kümmerte sich um das Begräbnis und brachte Jesus in seine eigene Familiengruft (Matthäus 27,57-60), die sich Jesus‘ Familie niemals hätte leisten können („Aber bei einem Reichen ist er gewesen in seinem Tod,“ Jesaja 53,9), ein sehr kostspieliger Dienst an Jesus, der bereits nach drei Tagen zurückerstattet wurde, als Er wiederauferstand.
Wie grüne Triebe am wahren Weinstock
Oberhalb einer solchen Begräbnisstätte, die wir auf dem Gelände bestaunen können (siehe Titelbild), ist ein Weinberg angelegt, den Ausgrabungen an genau diesem Ort zutage förderten. Im Schatten der Rebdächer treffen wir Simon, ein Weinbauer, der uns erklärt, wie die Reben jedes Jahr radikal beschnitten werden müssen, damit sie gute Frucht bringen. Nur ein Hauptzweig wird aus einer Pflanze zugelassen. Und allein die frischen, grünen Triebe tragen im laufenden Jahr die Frucht. Der Haupttrieb ist lediglich zur Versorgung der jungen Triebe da.
So wird Jesu Lehre über die Weinrebe lebendig (Johannes 15,1-8): Wir können nur Frucht bringen, solange wir am Weinstock, in Jesus bleiben. Und Gott, der Vater, ist der Weingärtner, der sich um die Gesundheit der Reben kümmert und die schlechten Triebe abschneidet. Jesus lässt uns die Frucht tragen. Durch uns bringt Er seine guten Gaben in die Welt. Dabei versorgt Er uns mit allem, was wir benötigen, solange wir bei Ihm bleiben.
Der Gesalbte und das Mysterium des Heils
Unsere letzte Station führt uns in die Synagoge von Nazareth, in der Jesus aus dem Propheten Jesaja (1,1-2a) vorlas und sich anschließend setzte, um zu lehren (Lukas 4,16-30). Wo anfangs noch Faszination für Jesu Autorität und Ausstrahlung bestand, blieb später nur blanke Wut übrig. Die Bewohner von Nazareth wollten Jesus an die Felskante treiben und herunterstürzen. Was hatte die Menschen, mit denen Jesus aufgewachsen war, nur derart aufgeregt? Mit der Lesung aus der Jesaja-Rolle hatte Jesus sich als den Gesalbten, den Messias, offenbart. Während einige der Zuhörer anfangs durchaus bereit gewesen waren, Ihm zu glauben, widersprach Jesus in seiner darauffolgenden Lehre jedem Bild, das sich die Menschen vom kommenden Messias gemacht hatten. Sie erwarteten einen Krieger, der sie von der Unterdrückung durch die Römer befreien und Israel an den rechtmäßigen Platz als hervorgehobenes Volk unter den Nationen bringen würde. Der Messias sollte aller Welt beweisen, dass Israel Gottes auserwähltes Volk ist.
Jesus, indes, bezog sich auf Wundergeschichten aus der Bibel, in denen Heiden Heil widerfahren ist; die arme Witwe, deren Öl und Mehl kein Ende nahmen (1. Könige 17,8-16), und der feindliche Hauptmann Naaman, der von Aussatz gereinigt wurde (2. Könige 5,1-14). Beides geschah durch israelitische Propheten. Entgegen dem Verständnis der damaligen Juden blieb Jesus Gottes Plan für das Volk Israel treu. Als Gott Abraham aussonderte, um aus ihm sein auserwähltes Volk entstehen zu lassen, kündigte Er an: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“ (1. Mose 12,2-3). Gottes Verständnis von seinem auserwählten Volk ist nicht, dass diese Menschengruppe besser und geehrter und mächtiger dasteht, sondern dass durch sie alle Nationen der Welt gesegnet werden. Diese Lehre hat die Menschen von Nazareth so wütend gemacht, dass sie Jesus umbringen wollten. Doch seine Zeit war noch nicht gekommen und Er schritt durch ihre Mitte hinweg. Dies war wahrscheinlich das letzte Mal, dass sich Jesus in seinem Kindheitsort aufhielt.
Mit Jesus im Heute
Unsere Besuchergruppe verlässt ebenfalls mit diesen Worten das nachempfundene Dorf und kehrt in die Gegenwart zurück. Der Besuch beinhaltet noch weitere inspirierende Begegnungen und Orte, die sich zu entdecken lohnen. Hier in Israel wird die Bibel lebendig und viele Aussprüche Jesu für mich überhaupt erst nachvollziehbar.
Mein tiefes Anliegen für uns, die Gemeinschaft der Gläubigen, ist dies: dass wir nicht versuchen, den Messias in unsere Erwartungen zu pressen, sondern uns von ihm herausfordern, transformieren und segnen lassen, damit wir seine Gute Botschaft in die ganze Welt tragen.
Verena Welteke
Norina hat wunderbar und lebendig wiedergegeben, was wir gemeinsam erlebt haben. Beim Lesen dieses Berichtes lebt alles wieder vor dem inneren Auge auf und die Sehnsucht nach einem neuen Besuch dieses Landes ist entfacht. Gott schütze – nein – schützt Sein Volk und damit uns alle. Danke Norina
Finn
Sehr cool geschrieben und voll authentisch. Danke für die vielen Eindrücke! Ich hab es zwar selbst noch nicht erlebt, aber ich konnte so richtig mitfühlen mit dem, was du wahrgenommen hast.