(Dieser Artikel erschien im Mai 2023 – seine Botschaft sollte heute immer noch aktuell bleiben)
Was kommt dir bei dem Ort Bethlehem in den Kopf? Eine ruhige Scheune gelegen in einer grünen Landschaft mit Olivenbäumen, Eseln und der Geruch von Weihrauch? Doch von einer besinnlichen Atmosphäre hat Bethlehem kaum mehr was übrig: Heute durchquert eine graue Betonmauer mit Stacheldraht das Gebiet. Militär ist Alltag. Ein Palästinenser erzählt mir vom Leben in Bethlehem. Ein Bericht.
Um nach Bethlehem zu gelangen, muss man durch einen Checkpoint laufen und auf die andere Seite der Mauer gehen. Dann ist man offiziell im palästinensischen Autonomiegebiet. Ungeduldige Taxi-Fahrer schauen mich mit großen, hungrigen Augen an. Sie wittern ihre Chance, mir als Touristin verlockende Angebote zu machen. Dort, vor dem grauen Betonquader, steht auch Muhammad (Name redaktionell geändert).
Er ist freundlich und erklärt mir, mich in ganz Bethlehem herum zu fahren, die Sehenswürdigkeiten zu zeigen und alle Fragen über das Leben in Palästina zu beantworten. Die Gelegenheit, einen so tiefen Einblick von einem Einheimischen zu gewinnen, lasse ich mir nicht entgehen. Also stimme ich zu und unsere Fahrt geht los.
Das zerstückelte Land
Muhammad ist in Bethlehem groß geworden. Er kennt die Stadt wie seine linke Westentasche und könnte sich ein Leben woanders nicht vorstellen. Auf die Frage, wie das Leben gerade in Palästina ist, sagt er nur: „Es ist sehr schwer und es wird immer schlimmer.“
Israel und Palästina sind seit Jahrzehnten im Konflikt. Immer wieder machen Anschläge oder Ausschreitungen Schlagzeilen. 1993 einigten sich die beiden Parteien im Oslo-Abkommen über eine Aufteilung der Westbank in drei Areale: Zone A wird von der palästinensischen Regierung kontrolliert. In Zone B übt Palästina administrative Kontrolle aus und Israel hat die Sicherheitskontrolle inne. Zone C liegt in israelischer Hand.
Bethlehem liegt größtenteils in Zone A – mit Ausnahme im Norden und Westen der Stadt -, also entlang der israelischen Sperranlage. Muhammed erzählt mir, er sehe jeden Tag israelische Soldatinnen und Soldaten, die sich nicht an die Vereinbarung halten und sich im palästinensischen Gebiet in Zone A aufhalten. Überprüfen kann ich das nicht.
Muhammad ist sehr aufgeschlossen, beteuert immer wieder, dass ich ihn alles fragen könne und er kein Blatt vor dem Mund nehmen würde. Seine Offenheit erschreckt mich: Der Nah-Ost-Konflikt ist ein sensibles Thema und meistens wird Touristen davon abgeraten ihn anzusprechen. Muhammed ist enttäuscht von der palästinensischen Regierung, er wirft ihr Korruption vor und dass sie nichts für ihn als Bürger tun würde.
Er ist auch frustriert über die israelische Überwachung und die willkürlichen Kontrollen. Erst zwei Stunden zuvor wurde er von einer israelischen Soldatin angehalten und gefragt, ob er glaube, dass es jemals Frieden geben werde. Dabei schaute er auf das Maschinengewehr, das sie in der Hand hielt. „Wie soll ich da an Frieden glauben können, wenn eine Soldatin mit Waffe vor mir steht?“ Eine paradoxe Situation.
“Niemand braucht diese ganzen Soldaten!”
Wir kommen an der ersten Sehenswürdigkeit an: Die Geburtskirche von Jesus. Fast überall stehen palästinensische Soldatinnen und Soldaten. Nicht nur war ich an einem christlichen Feiertag in Bethlehem – dem Dreikönigstag –, es wird auch der palästinensische Präsident in der Stadt erwartet. Das bedeutet eine besonders hohe militärische Präsenz. „Niemand braucht diese ganzen Soldaten! Sie stehen nur unnötig rum. Ich erinnere mich an die Arafat-Zeit, da waren vielleicht nicht mehr als 20 Soldaten hier“, beschwert sich Muhammad.
Jassir Arafat war ein ehemaliger palästinensischer Präsident und bekam für die Unterzeichnung des Osloer-Vertrags einen Friedensnobelpreis. Für das palästinensische Volk gilt er als Freiheitskämpfer. Für den Westen galt er aufgrund der Attentaten und Bombenanschlägen unter seiner Führung lange als Terrorist.
Wir laufen die engen, von Touristen überlaufenden Straßen entlang. Muhammed grüßt jede paar Meter einen Bekannten von sich. Doch Zeit zum Quatschen bleibt nicht, denn die nächste Station wartet schon auf uns.
Die Zukunft des Landes
„Ich glaube an keine Zwei-Staaten-Lösung. Das haben wir schon die letzten 40 Jahre versucht“, antwortete Muhammed auf meine Frage, welche Zukunft er für sein Land sehe. „Ich möchte einen Staat, wo alle gleich sind.“ Aber die Macht sei derzeit nicht gleich verteilt, so Muhammed. Er möchte, dass die israelische Besiedlung ein Ende findet. „Ich möchte sie ja nicht aus ihren Häusern verjagen, aber sie sollten zumindest mit dem Siedlungsbau aufhören. Ab dann können wir reden.“
Propaganda oder Kunst?
Wir halten an einer Tankstelle. „Komm, ich zeig dir das Banksy-Graffiti.“ Und tatsächlich: An der unscheinbaren Hauswand, an irgendeiner zufälligen Tankstelle, ist das berühmte „Love-is-in-the-air“-Graffiti vom britischen Künstler Banksy zu sehen. Es zeigt einen jungen Mann mit einem Schlauchschal um seinen Mund gewickelt, der einen bunten Blumenstrauß wirft. Die Graffiti von Banksy sind moderne Symbole der palästinensischen Freiheitsbewegung.
In der ganzen Stadt findet man auch Kopien seiner berühmten Werke. In Israel ist er weniger beliebt: Auf einem Aufsteller im jüdischen Viertel Jerusalems wird seine Kunst als „anti-israelische Propaganda“ bezeichnet. Udi Merioz ist die israelische Gegenantwort auf Banksy. Ein Kunstwerk mit dem Namen „Gebt ihnen keine Waffen, dann müssen wir keine Mauer bauen“ spricht für sich selbst.
Die palästinensische Gastfreundschaft
„Hier wohne ich! Möchtest du reinkommen?“, fragt mich Muhammed freundlich. Ich bejahe und er serviert mir frischen Tee mit warmem Gebäck. Er fläzt sich auf seine Couch und zündet sich nonchalant eine Zigarette an. Die Sonne strahlt ihn aus dem hinteren Fenster an und der Zigarettenrauch entflieht durch die offene Balkontür. Vögel zwitschern im Hintergrund. Er erzählt mir mit funkelnden Augen von der palästinensischen Stadt Hebron, seiner Lieblingsstadt. Hebron liegt rund 40km von Bethlehem entfernt.
Für Palästinenserinnen und Palästinenser kann so eine Städtefahrt einen ganzen Tag dauern. Da die israelischen Behörden mehrheitlich die Straßen kontrollieren, ist die Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt für die palästinensischen Einwohnerinnen und Einwohner. Muhammed erzählt, dass es oft von der Laune der Soldatinnen und Soldaten abhängt, ob man weiterfahren darf oder nicht. Er sagt mit einem traurigen Lächeln im Gesicht: „Ein Flug nach Spanien oder Deutschland dauert so lange wie eine Fahrt nach Hebron.“
Heimweh
Zurück im gelben Auto mit den schwarzen Ledersitzen fahren wir weiter durch die von Hügeln durchzogene Stadt. Mitten auf der Straße scheint ein ca. 6 Meter hohes Schlüsselloch gebaut zu sein, worauf ein noch größerer Schlüssel thront. Das Kunstwerk ist Tor zum Aida-Flüchtlingslager. „Nicht zu verkaufen“ ist auf Arabisch in den Schlüssel gemeißelt. Viele Palästinenserinnen und Palästinenser, die während der Kriege ihr Zuhause verlassen mussten, haben bis heute ihre Schlüssel aufbewahrt. In der Hoffnung, irgendwann nach Hause zurückzukehren.
Während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1947 bis 1949 wurden von den 1,4 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser rund 750.000 Menschen vertrieben. Einige siedelten sich in Flüchtlingslagern in Betlehem an, die bis heute noch bestehen. Muhammed fährt mich dorthin, genauer gesagt zu dem Viertel Bait Nattif. Es sind alte, ärmliche Häuser, die sich am Stadtrand befinden. Es hängt ein verblichenes Schild am Straßenanfang, auf dem steht, dass dort 2494 Menschen wohnen. Die Flüchtlingsproblematik ist einer der zentralen Fragen im Nah-Ost-Konflikt. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, UNRWA, zählt derweil 5,8 Millionen palästinensische Flüchtlinge.
“Ich bin kein Terrorist!”
Mitten auf der Autobahn halten wir plötzlich an. Vor uns steht ein großes, rotes Warnschild.
„Diese Straße führt zur Zone ‚A‘. Unter palästinensischer Autorität. Der Zugang ist für israelische Bürger verboten, lebensgefährlich und gegen israelisches Gesetz“, heißt es in Hebräisch, Arabisch und Englisch auf dem knapp drei Meter hohen Schild.
„Wie fühlst du dich, wenn du das Schild liest?“, fragt mich Muhammed. Ich schaue ihn verwundert an und sage: „Na, man bekommt Angst.“ „Ganz genau! Sie wollen dir Angst machen mit dem Schild.“ Muhammed erzählt davon, wie er sich von der israelischen Regierung als Terrorist abgestempelt fühlt. Er zeigt auf ein Auto mit einem gelben Nummernschild: „Der israelische Autofahrer hinter uns – ich bin mir sicher, wenn er mich in meiner Kufiya (palästinensisches Tuch) sehen würde, hätte er Angst vor mir. Und ich kann es ihm nicht verübeln, weil ihm diese Angst eingeredet wird. Aber ich bin kein Terrorist! Bei einem Autounfall würde ich ihm helfen, wie jedem anderen Menschen auch.“
Das liegt mir schwer im Magen. Das typische Feindbild des „Arabers“ mit Palästinensertuch und Maschinengewehr um den Hals, kennt man ja auch aus Deutschland. Doch als gefährlich nehme ich Palästina nicht wahr. Das Volk scheint satt vom Krieg zu sein und sich Frieden zu wünschen. Die PLO, die palästinensische Befreiungsorganisation und Regierungspartei, vertritt nicht unbedingt die Interessen der palästinensischen Menschen. Muhammed zumindest scheint sich von ihr im Stich gelassen zu fühlen.
Illegaler Siedlungsbau
Nach einer kurzen Weiterfahrt sind wir beim Herodium angekommen, einer ehemaligen Festung gelegen auf einem kleinen Berg, sodass wir über Bethlehem schauen können. Wir befinden uns in Zone C, dem israelisch kontrollierten Gebiet. Muhammed darf eigentlich nicht hier sein, aber weil er mich im Sinne seiner Arbeit herumführt, ist es ihm erlaubt. „Die meisten Touristen wissen zwar von den Siedlungen, sie sehen sie aber nicht. Die ganzen Häuser da, sie wurden vor ein paar Jahren gebaut.“ Er zeigt auf eine Wohnsiedlung mit roten Dachziegeln. Die israelischen Häuser erkennt man sofort – sie haben einen ganz anderen Baustil als im Rest des Landes.
480.000 jüdische Siedler leben in hunderten Siedlungen, die von der Armee und Milizen geschützt werden. Seit über 50 Jahren besteht der israelische Siedlungsbau außerhalb der „Grünen Linie“, welche im Waffenstillstandsabkommen von 1949 beschlossen worden ist. Laut Internationalem Gerichtshof und den Vereinten Nationen ist der Siedlungsbau völkerrechtswidrig. Amnesty International hat 2022 die israelische Besetzung und Unterdrückung der Palästinenser als Apartheid-System gebrandmarkt.
Eine Mauer, zwei Staaten
Der Abend neigt sich langsam dem Ende zu. Die Sonne errötet und es fängt an zu dämmern. Muhammed fährt mich zur Mauer, die Israel von Palästina trennt. Auf der neun Meter hohen, grauen Betonwand sind etliche politische Graffiti und Statements verewigt. Sie drücken den angestauten Frust über die israelische Besetzung aus. Laut Internationalem Gerichtshof verstößt die israelische Sperranlage gegen internationales Recht. Die Mauer ist ungefähr 70 km lang, der Rest der Sperranlage besteht aus über 700 km langen Zäunen und Stacheldrähten. Die Grenze der „Grünen Linie“ entspricht dagegen nur 320 km.
Die Graffitis sind bedrückend: Ein Kind, was mit Bomben jongliert oder eine Ballerina, die über Stacheldraht springt. Einmal heißt es: „Walls Fall. Berlin ‘89“. Ich muss schwer schlucken.
Und dann stehen an der Mauer auf einmal zwei kitschige, sonnengelbe Stühle und ein kleiner grüner Tisch mit einer entzückenden Pflanze drauf. Ein krasser Kontrast zum sonst so tristen Erscheinungsbild. Dahinter ist ein Graffiti, das wie ein Loch in der Mauer aussieht mit dem Ausblick auf ein friedliches Jerusalem. Ich muss an Muhammeds Worte von vorhin denken: „Jerusalem ist meine Hauptstadt”. Es ist ihr Sehnsuchtsort und ihr Symbol der Freiheit.
Am Checkpoint 300
Unser Tag endet dort, wo er auch angefangen hat: am Checkpoint 300. Muhammed muss mich aber schon vorher rauslassen, denn die Straße zum Grenzübergang ist an dem Tag für Autos gesperrt. Den Grund dafür erlebe ich wenige Sekunden später selbst, denn Mahmud Abbas – der palästinensische Präsident – fährt an uns mit einer riesigen Entourage bestehend aus schwarzen SUVs vorbei.
Im Checkpoint laufe ich durchs Drehkreuz, meine Taschen werden durchleuchtet und mein Pass vom israelischen Personal kontrolliert. Es dauert nur wenige Minuten und ich bin wieder auf der anderen Seite der Mauer.
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