Was heißt es, „anders“ zu sein? Was heißt es, so „anders“ zu sein, dass man selbst in einem „liberalen“ Staat keinen Ort zum Ankommen findet? Was passiert hinter den Türen des BAMF, wo Asylanträge bearbeitet und Interviews mit Flüchtlingen geführt werden?
Ich bin anders.
Wir hatten eine andere politische Überzeugung. Aber die Leute wollten das nicht. Als mein Cousin mit einem politischen Pullover einkaufen wollte, ließen sie ihn nicht in die Läden. So war das oft. Mein Onkel wurde abgeholt. Und sie wollten auch mich. Weil wir eine andere Partei unterstützten.
Als ich später mit meiner Großmutter telefonierte, ich war da schon weit weg, da hatten sie ihn ermordet. Schließlich kam ich in ein Land an der Küste. Die Menschen dort konnten uns alles nehmen: Unser Geld. Unser Leben. Unsere Würde. Am helllichten Tag. Ganz einfach.
Diejenigen, die kein Geld für die Überfahrt hatten und in der Dunkelheit dennoch wagten, in eines der Boote zu steigen, hatten nicht immer Glück. Eine Kontrolle konnte ihren Tod bedeuten.
Szenenwechsel.
Die schwäbische Idylle im Sonnenschein. Sie zog an uns vorbei. Wir beugten uns vor, bis sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Wir flüsterten fast. In diesem noblem ICE. Dennoch waren wir zu laut. Ups. Das Ruhe-Abteil. Ein Mann forderte uns höflich auf. Gut, wir gingen. Nahmen weiter vorn Platz. Er erzählte mir seine ganze Geschichte. Neben uns lasen sie in Romanen. Ich dagegen fühlte mich als wäre ich in einem.
Der Bus spuckte uns im Nichts aus. Ein paar bunte Leute. Drum herum nur Felder. „Urlaub auf dem Hof“ hätte der Roman, in dem ich wandelte, auch heißen können. Außerhalb der Stadt, weg von allem Geschehen, von allem Sehen, liefen wir lange einfach nur gerade aus. Es duftete nach Erdbeeren. Eine leichte Anhöhe, eine Brücke. Eine rauschende Autobahn darunter. Menschen in ihren Autos, auf ihren Straßen, mit ihrem Blick, starr, eingeschränkt von Leitplanken, mit einem klaren Ziel vor Augen.
Die Welt hinter der Brücke
Hinter der Brücke erhob sich der Zaun, die Pforte. Großspurige Männerstimmen winkten einzelne Autos durch. Die Menge am Eingang für Besucher ist klein, überschaubar. Dennoch wirkt der Wachmann gestresst, als wäre viel zu tun. Dabei ist der große Ansturm längst vorbei. Spielt er sich auf?, frag ich mich. Macht er deshalb diese Kommentare, weist uns zurecht in eine Schlange, die gar keine sein kann. Oder ist das BAMF einfach nie zur Ruhe gekommen? Einige Wachmänner stehen auf dem Boden und machen einfach ihren Job, angenehm. Wir kommen durch, jeder Schritt von uns wird begleitet. Überall Personal. Gut organisiert, das Ganze. Das BAMF hat was gelernt nach dem letzten Tsunami. Denkt man zumindest. Oder haben sie die Trümmer vielleicht nur unter den Tisch gekehrt?
Wir werden freundlich in eine Wartehalle geführt. Wenige sitzen dort. Muss mal laut hier gewesen sein. Essen wird ausgegeben, Wasser gibt’s auch. Sehr freundlich. Dabei haben wir Durst nach etwas ganz anderem. Ich sehe mehrere Afrikaner, die ausgerüstet mit Putzeimer und Wischmopp den Boden schrubben. Ach, dafür seid ihr den Leuten also gut genug, denk ich mir. Wollt ihr arbeiten, so lässt man euch nicht, aber wenn es darum geht, den Schmutz zu beseitigen, dann dürft ihr. Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein. Lebe ich etwa im Kolonialismus des 21. Jahrhunderts?
Ein Ansager kommt. Im Anhörungsraum, einem normalen, bürokratischen, deutschen Büro, sind die Fenster verdunkelt. Mit Rollo auf Schlitz. Hinter dem Computerdesktop sehe ich nur die letzten Haarspitzen des reichlich lichten Haarschopfes. Das Gesicht verschwindet in der Anonymität, doch man stellt sich freundlich vor. Wohl fühlt man sich trotzdem nicht. Der Dolmetscher wirkt am lustigsten. Zum Lachen gibt es aber sicherlich nichts. Es sei der große Tag meines Klienten, wird betont. Mehrfach. So solle ich mich doch bitte zurücknehmen und am Ende des Interviews sprechen, sofern es mir dann zugesprochen wird. Widersinnig, der ich doch dafür da bin, meinen Schützling zu unterstützen, denk ich. Gleichwohl verstehe ich, was der Anhörer sagt. Manch Ehrenamtlicher habe sich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Das Fenster ist doch zu, denke ich, aber nun gut. Ich habe den festen Eindruck, in der schwächeren Position zu sein. Ich tue gut daran, auf den Anhörer und dessen, wenngleich widersinnigen und unrechten Bedürfnisse menschlicher Natur, Rücksicht zu nehmen. Andererseits endet dieses ganzes Theater im Fiasko, das ist mir nach wenigen Sekunden klar. Und dann geht es los.
We want Justice
Fragen zur Identität. Suggestive Fragen. Protokollierung. Viel Protokollierung. Dabei werden all die massiven Verständnisschwierigkeiten zwischen dem Dolmetscher und meinem Schützling wegprotokolliert. Alles wird fein säuberlich notiert. Jeder Witz. Der verbale Ausrutscher, das Schimpfort, die Vulgärsprache des ungeduldigen Anhörers aber, all das taucht in der Abschrift, die uns am Ende ausgehändigt wird, niemals auf. Alles sauber, wie im Wartesaal. Man könnte mit den Schweißperlen auf der Stirn des Anhörers sicherlich die Putzeimer der Putzkolonnen füllen, fällt mir auf. Ich frage mich, warum der gute Mann, sichtlich bemüht um Korrektheit, so gestresst ist. Man sieht nur seine Silhouette. Steht er so unter Druck durch seine Vorgesetzten? Er betont manches Mal die Regeln und Vorgänge, besonders am Schluss, als ich mich dann doch einmische. Der arme Mann muss ja ganz wahnsinnig sein, denk ich mir. Schließlich kommen die wichtigen Fragen. Zur Flucht.
Geschickt lenkt der Anhörer die Fragen. Sie alle kommen mir bekannt vor. Sie versuchen suggestiv auf Widersprüche hinzuarbeiten. Es sei der große Tag, meines Schützlings. Ich muss mich zusammenreißen. Wie im Witzfilm. Nur zum Heulen. Der Anhörer ist an den Antworten interessiert, die er hören will, um den Flüchtling schnellstmöglich abzuschieben. Ihn interessiert die menschliche Not so viel wie das Papier in seinem Schreddergerät. Die einzigen stillen Pausen, bestehen während des Niederschreibens oder Protokollierens durch den Anhörer. Wir sehen nicht, was er schreibt. Wir hören nur das Tippen einer Tastatur. Tock. Tock, tock. Tock. Er wiederholt und vereinfacht komplexe Erzählungen zu einfachen Sätzen, wenn er verbal in sein Tonband spricht, als würde er einen Raketenstart zu einem Höhenflug vorbereiten. Dabei handelt es sich hierbei eher um die Endphase eines Absturzes, befürchte ich. Zeiten demokratischen Niedergangs. Ich konzentriere mich zutiefst. Höre auf die genauen Worte, die Wortwahl und die Art der Formulierungen meines Freundes. Wir haben ihn vorbereitet. Von den wichtigen Dingen, die er mir im Zug erzählt hat, kommt nun nur tröpfchenweise etwas heraus. Junge, denke ich, spucks aus. Am besten direkt ins Gesicht des Anhörers. Ich muss mich beherrschen. Schaue ihn an, der zu meiner Linken sitzt. Krumm. Er sieht fast nur zum Dolmetscher. Er scheint mich gar nicht mehr wahrzunehmen, fast komme ich mir so vor, als würde er mich als störend empfinden. Diese Situation ist inakzeptabel.
Ein Pullover, der die Wahrheit erzählt
Ich beuge mich der Bitte des Anhörers, die Schnauze zu halten. Ich tue das nicht, weil es richtig ist und es meinem Recht entsprechen würde. Ich tue das, in dem Wissen, dass es falsch ist, aber in dem Bewusstsein, dass alles andere die Situation nur verschlimmern würde. Ich sehe den Stirnschweiß des Anhörers, zähle seine Kopfhaare und bleib still. Warte darauf, dass er mir das Wort erteilt.
Er tut es schließlich, nach ein paar Stunden, verflogen wie wenige Sekunden, in Anspannung und Konzentration. Ich sage ehrlich, dass ich mich kurz besinnen muss, um meine Fragen korrekt zu stellen. In dem Wissen, dass alles protokolliert wird und in dem Wissen, für welche Flucht-Gründe positive Bescheide vom BAMF vergeben werden, versuche ich, meine Fragen geschickt zu stellen. Mein Klient hat mir seine Geschichte erzählt. Wegen seiner aktiven Angehörigkeit zu einer politischen Gruppe haben seine Familie und er Verfolgung bis in den Tod erlebt. Eigentlich Grund genug für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er hat es mir erzählt. Seine Not. Sein Leid. Seine Gründe. Da war dieser Pullover. Sein Onkel. Auch ihn wollten sie holen. Hinrichten. Nun frage ich ihn nach eben diesen Vorfällen. Nach dem Pullover. Er hatte es in der Anhörung vergessen zu erwähnen, dieser Pullover, wie viele andere wichtige Aspekte, Beispiele, Details und Belege, die er mir vor der Kulisse der vorbeirauschen Schwäbischen Idylle im Zug erzählt hatte.
Ich frage ihn nun. Er wirkt, als wolle er es nicht hören. Wendet sich ab. Es kommt zu Schwierigkeiten mit dem Übersetzer. Eine Katastrophe
Teil II folgt…
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