Das Unrecht schreit zum Himmel. Willkürliche Polizeigewalt in Minneapolis löst Massenproteste in den USA aus. Was können wir tun? Ein Kommentar.
Es dreht mir die Eingeweide um, als ich das Bild sehe. Wut flammt auf. Wie kann man nur so derartig böse sein? Wie kann man als Polizist, als Beschützer des Rechts und des Lebens derartig brutal, derartig gewalttätig sein und dieses hilflose Leben eines am Boden liegenden Mannes so willkürlich beenden? Gedanken über das Leben, über Gerechtigkeit und unseren Umgang mit entflammter Wut schießen mir durch den Kopf.
Könnte ich ihm das vergeben? Nein, denke ich zunächst. Das kann ich nicht. Er hat einen unschuldigen Mann ermordet. Vor laufender Kamera. Schamlos. Ich kann diesem Mann, diesem weißen Polizisten nicht einfach vergeben – die Wut ist zu groß. Und selbst wenn ich das wöllte: wie?
Sehen Sie denn nicht?
Ich erinnere mich vage wie es ist, keine Luft zu bekommen. Aber, was bei George Floyd ewige Minuten gedauert hat, waren bei mir nur wenige Sekunden. Bei mir war es ein Kampf zwischen Männern, vielleicht sogar Freunden, bei dem mir mein Kontrahent von hinten an die Kehle gegangen ist. Rasend schnell hatte er seinen Arm um meinen Hals gelegt und zugezogen. Ich will einatmen. Kann aber nicht. Eins. Panik wallt auf. Meine Lunge fühlt sich wie vakuumiert an. Todesangst. Zwei. Ich schlage mit meinen Händen auf den Boden – das Zeichen zum Aufhören. Die Zuschauer reagieren nicht. Drei. Was passiert hier? Ich schlage doch mit meinen Händen. Das Zeichen zum Aufhören. Warum sieht das keiner? Alle feuern den Kampf immer noch an. Dabei kämpfe ich doch gar nicht mehr. Vier… Die Sekunde wie eine Ewigkeit. Dann… frei… Ich bin frei.
Meine Lunge japst nach Luft. Und ich bin sauer. Ein Kampf unter Freunden sollte es sein. Für mich hatte es sich kurz nach einer Würgerei angefühlt. Noch immer sieht niemand so aus, als hätte er etwas mitbekommen. Sind denn alle blind gewesen? Schon steigen die Nächsten in den Ring. Mir fehlen die Worte. Es sollte ein Abend des Sieges sein. Für mich war es ein Abend des Scheiterns und Todesangst-habens. Die Regeln wurden nicht eingehalten. Und vor allem: Offenbar hat niemand richtig hingesehen.
Das darf nicht sein
Bei George Floyd haben alle hingesehen. Die Polizisten. Und jetzt die ganze Welt. Trotzdem musste er sterben. Ich kann jeden verstehen, der sich mit aller Kraft dagegen auflehnt. Ich kann die Frustration und die Wut verstehen. Ich kann verstehen, warum Menschen in ihrer Verzweiflung Polizeistationen anzünden. Wahrscheinlich kann ich es aber doch nicht richtig verstehen. Aber selbst wenn ich es verstehen könnte? Ist Gewalt als Reaktion auf Gewalt deshalb richtig? Ich hätte den Veranstaltern meines Kampfes an diesem Abend am liebsten die Leviten gelesen; zumindest in meinen Gedanken vielleicht sogar einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf geschüttet, damit sie aufwachen und wieder richtig hinsehen. Manch einer hätte vielleicht sogar richtig versucht, Ohrfeigen zu verteilen. Aber wäre das richtig gewesen?
Zu meiner Kinderzeit haben wir uns verabredet, um gemeinsam zur die Schule zu gehen. Gelegentlich ist es in meiner Grundschulzeit dann passiert, dass sich meine Freunde ohne mich verabredet haben. Ich musste allein gehen. Wenn ich auf sie zugegangen bin, sind sie davon gerannt. Hätte es etwas gebracht, wenn ich dieses Verhalten zurückgegeben oder vielleicht an andere weitergegeben hätte? Als Erwachsener habe ich mehr Möglichkeiten. Ich bin stärker. Habe mehr Einfluss. Könnte mir Werkzeuge der Macht leisten. Waffen. Verbale Waffen genauso wie handfeste. Ich könnte andere unterdrücken. Sie mobben. Ich könnte schlecht über andere Menschen reden. Lästern. Menschen verprügeln. Und ich könnte das besonders gut, weil ich als Kind gelernt habe, genau das, ja all das, zu tun. Dadurch, dass ich es selbst alles erleiden musste. So könnten viele sprechen. Aber wäre es deshalb richtig?
Der schwere andere Weg
Habe ich Ausgrenzung erlebt und grenze jetzt andere aus, was wird dann der andere tun? Habe ich Schläge bekommen und schlage jetzt selber zu, was wird dann der andere tun? Habe ich Rassismus, willkürliche Gewalt erlebt und rede jetzt selber schlecht über Weiße, schlage vielleicht sogar zu, was wird dann der Weiße tun? Hat man mir selber die Luft genommen und nehme ich sie jetzt anderen, was wird der Andere tun? Hat man George Floyd ermordet, was wird dann als nächstes geschehen? Hass führt zu Hass. Gewalt zu Gewalt. So war es und so wird es immer sein, wenn wir nicht umdenken. Ich weiß, dass es nicht möglich ist. Nicht jetzt, wo all der Schmerz so tief sitzt. Die Verzweiflung und Frustration. Aber wann sollen wir damit beginnen? Wann?
Martin Luther King Junior hat mir persönlich gezeigt, dass es möglich ist, einen anderen Weg zu gehen. Einen Weg des Friedens. Nein; keinen Weg des klein-bei-gebens. Davon hat Martin Luther King Junior nie gesprochen und jeder, der ihm solches unterstellt, hat ihm nie zugehört, geschweige denn ihn verstanden. Auch hat er nie gesagt, dass es einfach wäre. Aber sollten wir es uns nicht alle wünschen? Es erfordert Größe als Geschlagener nicht zurückzuschlagen und doch Wege zu suchen, die ein Unrecht nicht konsequenzlos lassen. Während der Bürgerrechtsbewegung in den USA wurde unter anderem der öffentliche Nahverkehr boykottiert. Wo können wir heute auf friedliche und gewaltfreie Weise Druck ausüben, um Gerechtigkeit zu schaffen? Möglich? Ich weiß es nicht.
Fest steht: Gewalt als Antwort auf Gewalt führt zu neuer Gewalt. Bringt mich dem Ziel also nicht näher. Ich will Gerechtigkeit? Warum spiele ich dann selbst nach den Regeln der Ungerechtigkeit? Gewalt und Hass als Mittel zum Leben? Das kann nicht funktionieren. Wir müssen uns frei machen von der Schlinge des Hasses, die uns den Atem nimmt, um das Leben zu ergreifen, das den Tod überwindet. Wir dürfen uns nicht blenden lassen. Leicht ist das nicht. Das habe ich nie gesagt. Und möglich? Ich weiß es nicht. Bin ich ein gutes Vorbild? Sicherlich nicht. Aber sollte es nicht möglich sein? I hope that it IS. That’s the dream I have.
Möge George Floyd in Frieden ruhen.
Johanna Mayer
Ein bewegender, aufrüttelnder Artikel.
Valentin Schlott
Danke für dein Feedback. Es freut mich, dass er bewegt hat 🙂