Als Rettungssanitäter begegnet Georg Lehmacher jeden Tag Menschen, die seine Hilfe benötigen. Zum Beispiel einem älteren Herrn, der sich Sorgen um seine Frau macht und sich fragt, ob sie noch zusammen ihre Diamanthochzeit feiern können. Betrunkenen Kneipengängern, die ihm und seinen Kollegen mit Schlägen drohen. Einer Ehefrau, die aus Dankbarkeit den Rettungssanitätern einen Korb gefüllt mit Fleisch und Würsten mitgibt. Doch sein Engagement hat auch Schattenseiten. Beide seiner Bücher sind anders als andere Rettungssanitäter-Geschichten.
Jeder kennt die Geschichten, in denen es um Blut, Leben und Tod gibt. Rettungssanitäter sind oft dann gefragt, wenn ein Betroffener plötzlich sehr krank wird und sogar droht, an Ort und Stelle zu sterben. Die Bücher von Georg Lehmacher sind mehr als nur Geschichten über Rettung und Leistung. In seinen Schilderungen überlässt der Autor vor allem den Patienten und Angehörigen die Bühne. Er selbst bleibt der stille Beobachter im Hintergrund, ohne einen voyeuristischen Eindruck zu erwecken oder jemanden bloßzustellen.
Der Leser erfährt nur das Nötigste – zum Beispiel, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, das (ungefähre) Alter und besondere Einrichtungsgegenstände. Darüber hinaus bleiben alle Personen in den Geschichten anonym, vieles bleibt ganz der Fantasie des Lesers überlassen. Ergänzend zu den Fällen reflektiert Georg Lehmacher immer wieder sein eigenes Denken und Handeln. Nach dem Einsatz bei dem älteren Ehepaar denkt Lehmacher an seine eigene Ehe und fragt sich, ob er wohl mit seiner Frau Renate genauso lange zusammenbleiben wird.
Er bemüht sich darum, bei den Einsätzen alles „richtig“ zu machen – allen voran, Patienten zu helfen, sie zu beruhigen und im Zweifelsfall das Leben zu retten. Das gelingt ihm leider nicht immer. Ein Fall ging ihm sogar so nahe, dass er gedacht hat: „Ich höre auf.“ Ein Notfall mit einem Säugling, ein erst wenige Wochen altes kleines Mädchen, das plötzlich regungslos in seinem Bettchen lag. Obwohl die Sanitäter alles versucht haben, was möglich war, kann der Notarzt nur noch den Kindstod des kleinen Mädchens feststellen. Lehmacher weiß, dass ihn keine Schuld trifft. Trotzdem liegt er abends im Bett und kann die Szene einfach nicht vergessen: „(…) Ich denke an den Blick der Frau, an der vorbei ich in das Haus gegangen bin. Ich denke an den Bilderrahmen und die zerbrochene Schale. Ich denke an die Holzbuchstaben. MATHILDA.“
Ohne sprachlich eleganten Schnickschnack, ohne sich zum tragischen Helden zu erheben, zeigt Georg Lehmacher jene Seiten des Rettungsdienstes, die man sonst nicht so wahrnimmt: Die extreme psychische Belastung, die oft auch lange über den Einsatz hinausgeht und auch im Alltag ein ständiger Begleiter ist. Ein simpler Funkspruch reicht und schon wird aus einem harmlosen Krankentransport ein lebensbedrohlicher Notfall. Innerhalb von Sekunden muss die Situation erfasst und richtig gehandelt, der Eigenschutz beachtet und Entscheidungen schnell und sorgfältig gefällt werden. All das, ohne dabei zu vergessen, dass es dabei um Menschen geht.
„Es ist wichtig, dass du nicht weiter groß über die ganzen Dinge nachgrübelst, (…) sonst drehst du irgendwann durch“, rät eine Ärztin Lehmacher auf einem Krankentransport. Sein Kollege Pit ergänzt: „Am besten gehst du nach dem Dienst nach Hause und vergisst alles wieder.“
Weil Lehmacher aber nicht vergessen kann, sucht er andere Wege, mit den oft quälenden Gedanken klarzukommen. Einer dieser Wege war offensichtlich das Schreiben seiner beiden Bücher. Mit deren Veröffentlichung bewirkt er noch etwas Anderes: Er sensibilisiert den Leser, zeigt den Stress und die Unberechenbarkeiten des Rettungsdienstes; teilt aber auch schöne Erinnerungen und Momente:
Auf dem Weg zu einem Einsatz bemerkt Lehmacher einen Mann, der leblos auf der Straße liegt. Er reanimiert den Mann und begegnet ihm Wochen später zufällig auf einem Parkplatz eines Supermarktes. Insgeheim freut er sich über die erfolgreiche Reanimation. In einer anderen Geschichte bringen Lehmacher und seine Kollegen eine junge Mutter ins Krankenhaus. Die Mutter leidet unter akuter Atemnot, möglicherweise in Zusammenhang mit Nierenproblemen. Die Ärztin in der Notaufnahme befürchtet, dass sie diese Nacht möglicherweise nicht überleben wird. Eine schlimme Nachricht für die Angehörigen, aber auch für die Ärztin und Lehmacher. „Ich habe für die Frau gebetet“ schreibt er ihr in einer SMS. „Ich auch“ kam als Antwort zurück. Später erfährt er, dass es der Mutter wieder besser geht und sie das Krankenhaus wieder verlassen konnte. „Und sie soll wohl ihre Koffer selbst getragen haben“, erzählt die Ärztin begeistert.
Solche Geschichten erfreuen nicht nur den Leser, sondern auch Georg Lehmacher. Nach dem Tod des Säuglings dachte er zunächst daran, sein Ehrenamt als Rettungssanitäter zu beenden. Am nächsten Tag ruft er Wachleiter Christian an, um ihm seinen Beschluss mitzuteilen. Christian ist froh, dass Lehmacher anruft, allerdings aus einem anderen Grund: Er braucht dringend jemanden, der eine Schicht fährt. „Ich hab mich schon bei allen anderen durchtelefoniert.“ Lehmacher zögert, erinnert sich an das tote Mädchen, an das Kinderzimmer; aber auch an das Gespräch mit seiner Frau Renate, die ihn überredet, weiterzumachen. „Wenn du aufhörst, dann fehlt dir doch was!“ Dieses Etwas wird auch ihm bewusst und zeigt sich in vielen weiteren Geschichten: Das gute Gefühl, einem Menschen in Not helfen zu können.
Er kommt zu dem Schluss: Wenn er es nicht tut, bliebe im schlimmsten Falle das Auto stehen und damit wäre niemandem geholfen. „Gut, ich mach‘s“ sagt er zu Christians Erleichterung in den Hörer.
Informationen zu den Büchern:
Autor: Georg Lehmacher
Titel: Keine Angst, wir kommen. Unfassbare Geschichten vom Rettungsdienst
Verlag: fontis – Brunnen Basel
Seiten: 317
Preis: 12,99€
Autor: Georg Lehmacher
Titel: Schneller als der Tod erlaubt
Verlag: Bastei Lübbe
Seiten: 304
Preis: 8,99 €
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